18. Juli 2017 Unserem
2016er Kunstsymposion hatte ich einen Text vorangestellt, der aufgreift, daß wir
manchmal in der Welt nicht mehr sicher sind. Ich meinte das nicht als kollektive
Erfahrung, sondern als individuelles Erlebnis: "Um in der Welt zu bleiben"
(Eine kleine Präambel)
In diesem Text heißt es abschließend:
Ich bin ein Kind der Tyrannis.
Ich bin unversöhnlich.
Ich bin ein Fremder.
Die Kunst ist mein Asyl. Da kann alles
neu gedeutet werden. Um in der Welt zu bleiben. Es geht um Koexistenz... [Quelle] Denn was uns als Gemeinschaft ausmacht, ist sehr wesentlich ein Deutungsgeschäft.
Zum Beispiel, wie im vorigen Eintrag notiert: "Das
sind immer noch prägende Denkmuster. Wir und sie."
Im diesem vorigen Eintrag erwähnte ich einen Mann mit
milder Seele. Dem hatte ich das Gedicht "Keraterm" gewidmet: [link] Das war eines
der serbischen Lager Bosniens, in denen während der 1990er Jahre systematisch getötet
wurde.
Graphic Novelist Chris Scheuer hat drauf, wie man sehen
kann, mit einem Holzschnitt geantwortet. Hier eine große Ansicht davon: [link] |
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Zum Hintergrund: Der serbische War
Lord Mlatko Radic, mit dessen Äußerungen hinreichend Videos im Web vorhanden sind,
nannte die Bosniaken ostentativ "Türken" und sagte unverblümt, es sei
Zeit, an ihnen Rache zu nehmen. Rache an wem und wofür? Von welchen Taten hergeleitet,
die wem angelastet werden sollten? (Ich hab seinen Tonfall so deutlich im Ohr.)
Mit solchen Details halten sich die forschen Wir-Konstrukteure
nicht auf. Dabei sollte einem dämmern: Hier geht es um Narrative, auch um nationale
Mythen. Ich bin selbst ein Beispiel für die Erfahrung, wie das innerhalb dreier
Generationen mehrfach umgestrickt wird, unterwegs allerdings Millionen Tote verursacht.
Meine Großväter, mein Vater und ich, das ist ein überschaubares Gefüge. Was innerhalb
dieses Gefüges erzählt und worüber geschwiegen wird, reflektiert solche Narrative.
Das ist ein Blick von der Spitze des Schlachtendenkmals auf
dem Kosovo Polje. Im Jahr 1389 unterlag dort Fürst Lazar mit seinem serbischen
Koalitionsheer den osmanischen Truppen unter Sultan Murad I. Der serbische Philosoph
Dragan Prole hatte mich bei unserem 2013er Kunstsymposion "the track: axiom |
südost" [link]
auf eine wesentlichen Aspekt dieser merkwürdigen Erinnerung hingewiesen.
Beide Heerführer, Fürst Lazar Hrebeljanovic und Sultan
Murad, haben diese Schlacht nicht überlebt. Es sei zu bedenken, meinte Prole, was das
für die nationalen Narrative bedeutet, wenn eine Schlacht mit solchen Konsequenzen derart
hochstilisiert werde, denn genau genommen hatten beide Parteien verloren und beide
Fürsten waren tot. Worauf ich nun hinausmöchte?
Wir haben die Freiheit, unsere nationalen Mythen und andere
Erzählungen, über die ein Wir hergestellt werden soll, über die das Wir
und Sie anschaulich werden möge, an solchen Denkmälern und Feindbildern
festzumachen. Das ist heute die Fackel des Nationalismus, mit der man jederzeit wieder
Brände legen kann.
Rasende Unvernunft: Dann spricht etwa der serbische
Kommandant nach mehr als einem halben Jahrtausend von einer fälligen Rache an den
Türken., obwohl er unter Garantie nicht einmal zu sagen gewußt hätte, was sein
Urgroßvater gedacht, was seinen eigenen Vorfahren bewegt hat. Wir lügen uns solche
Motive meist zurecht.
Wir haben ebenso die Freiheit, unsere nationalen Mythen und
andere Erzählungen, über die ein Wir hergestellt werden soll, über die das Wir
und Sie anschaulich werden möge, an all dem festzumachen, was verschiedene Ethnien
einander gegeben haben, was der Nutzen solcher Vielfalt war, die übrigens für Europa
konstituierend gewesen ist: ethnische Vielfalt als Quelle eines endlosen kulturellen
Austausches.
Eine andere Erinnerung: Als ich im Jahr 2009 im Rahmen von
"next code: asking" den kroatischen Schriftsteller Nenad Popovic zu Gast
hatte, der in Begleitung des Publizisten Norbert Mappes-Niediek (auf dem Foto unten
rechts) nach Gleisdorf kam, war zu notieren: "Wir haben uns offenbar quer über
den Kontinent schon so lange in allerhand Stereotypen und problematische Zuschreibungen
verheddert, daß es sehr verlockend erscheint, sich mit den gefälligen und handlichen
Stereotypen gut einzurichten." [Quelle]
Dabei auch der Satz: "Selbst Goebbels
habe Jahre gebraucht, um kritische Intelligenz ausreichend zu vertreiben und sich vom Rest
der Intellektuellen welche dienstbar zu machen, meinte Popovic sinngemäß."
Popovic ist ein guter Freund von Dzevad Karahasan, einem der wichtigsten bosnischen
Autoren der Gegenwart.
Karahasan hat mir in einigen Gesprächen ganz
entscheidende Hinweis gegeben, womit wir es in solchen Angelegenheiten zu tun haben und wo
sich das eventuell auflösen ließe. Im Jahr 2011 hatte ich in meinen Notizen
festgehalten: "Meine Figuren kommen zu einem sehr merkwürdigen Schluß. Daß
auch Haß akzeptabel und gut ist, im Vergleich mit der Gleichgültigkeit und mit der
Verachtung." [Quelle]
Das halte ich für sehr knifflig. Es bringt
gewissermaßen die Optionen auf die Kippe. Genau da sind dann Entscheidungen
unausweichlich. Es gibt nun diese Woche in meiner Umgebung gute Gründe, an folgende
Aussage von Karahasan zu erinnern, die einem unserer Gespräche entstammt:
Es stört mich nicht im geringsten,
wenn Herr Strache, ein Lastwagenfahrer, ein Unteroffizier, ein Kellner nach
Vereinfachungen greifen, sich die Welt zu erklären. Du bist Feind, er ist Freund. Sie ist
Frau, sie ist eine Heilige, sie ist eine Hure. Die Welt ist gottseidank einfach, meinem
Verstand angepaßt. Aber wenn die Intellektuellen, wenn die Werteproduzenten,
wenn die Leute, die Wertbegriffe, Wertvorstellungen schaffen, wenn Deutungseliten nach
Vereinfachungen greifen, ist der Teufel los. [Quelle]
Karahasan unterstrich die Verantwortung von
Autoren folgendermaßen: Die Kriege auf dem Balkan sind vorab geschrieben
worden. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Es steht ja außer Frage, was seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts in Quellen gut nachvollziehbar ist, was auch in realer
sozialer Begegnung kolportiert werden mag (Meine Großväter, mein Vater und ich!):
Letztlich ging jedem Massaker ein Krieg der Worte voraus. Das Umdeuten des
Mitmenschen zum Gegenmenschen gelingt vom Schreibtisch aus besonders gut. Es gibt
demnach sehr triftige Gründe, laufend zu beachten, was an Schreibtischen geschieht, was
aus Schreibstuben, Kulturbüros und vergleichbaren Einrichtungen an die Öffentlichkeit
kommt.
-- [Kunstsymposion 2017:
Koexistenz] -- |