25. November 2009 Der Autor
Nenad Popovic legte gestern einen mit Augenzwinkern abgefaßten Befund über die
wechselseitigen Klischeelagen zwischen den Leuten in Westeuropa und jenen auf dem
sogenannten "Balkan" vor.
Wir haben uns offenbar quer über den Kontinent schon so
lange in allerhand Stereotypen und problematische Zuschreibungen verheddert, daß es sehr
verlockend erscheint, sich mit den gefälligen und handlichen Stereotypen gut
einzurichten. Das ist freilich alles andere als lustig.
Einer der vielleicht verstörendsten Aspekte jener
Vorgänge, die Popovic reflektiert hat, ist das enorme Tempo, in dem gebildete Leute mit
... genau!, reichlich Reflexionsvermögen in kürzester Zeit bereit waren, Waffen in die
Hände zu nehmen und gegen vertraute Nachbarn vorzugehen.
Selbst Goebbels habe Jahre gebraucht, um
kritische Intelligenz ausreichend zu vertreiben und sich vom Rest der Intellektuellen
welche dienstbar zu machen, meinte Popovic sinngemäß. |
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Im vormaligen Jugoslawien ging das dann
wesentlich flotter. Popovic betonte zwar die konstituiernde Rolle der Medien in der
Eskalation der Konflikte, die sich im Sezessionskrieg Jugoslawiens entluden, merkte aber
an, daß "Haßsprache" schon weit verbreitet war und längst vor dem
Durchbruch der neueren Massenmedien geübt wurde.
Der Publizist Norbert Mappes-Niediek, sowohl mit den Fragen
des Medienbetriebs als auch mit den Belangen Südosteuropas bestens vertraut, brachte in
der anschließenden Debatte noch einen anderen Zusammenhang ins Blickfeld. Der
Medienbetrieb sei wie ein Prisma, meinte er. Daraus resultiert eine enorme Diffusion von
Informationen. "Jeder kann alles lesen", sagte er zum grundsätzlichen Stand der
Mediensituation, zur Verfügbarkeit von Texten und Informationen.
Dabei bleiben wir aber auf zweierlei hocken: Der Bewertung
der Quellen und der Bewertung der Texte, wonach wir entsprechend aus der verfügbaren Flut
zu wählen haben. Popovic erzählte von einem sehr kuriosen Phänomen. Wo auf den breit
verfügbaren Radios in Jugoslawien die Senderskala bloß eine Zeigerbewegung von rund
einem Zentimeter verlangt hätte, um etwa zwischen einem serbischen und einem kroatischen
Sender hin- und herzuschalten, was bedeutet hätte, eine Sache von beiden Seiten
beleuchtet zu bekommen, hätten sich beunruhigend viele Menschen dafür entschieden, genau
diesen Schritt nicht mehr zu tun.
Ein eigenes Kapitel sind dann noch jene Medienleute,
Intellektuelle, Regisseure und anderes Personal der Meinungsbildung, die völlig ansatzlos
von einem Regime zum anderen umsteigen, mehr noch, die etwa einen Film einfach neu
montieren, mit anderen Untertiteln versehen und damit quasi zur eigenen, vorherigen
Position gewissermaßen in Opposition treten. Offenbar problemlos, offenbar teilweise
sogar "in eigenem Auftrag", also ohne erkennbaren Druck von außen.
Dienstbarkeit der Tyrannis gegenüber, schlagartige
Feindschaft gegenüber vormaligen Freunden ... Nenad ist mit Dzevad Karahasan gut
befreundet, der Gast meines ersten Beitrages zur ersten "NCC" im Jahr 2001
gewesen ist: "Literatur und Netz: Erzählen in neuen Räumen" [link]
Dzevad sei ein leidenschaftlicher
"Kaffeehausliterat" gewesen, Radovan Karadzic, Psychologe und Schriftsteller,
habe sich ebenso gerne in den Kaffeehäusern von Sarajevo aufgehalten. Es sei also
praktisch ausgeschlossen, daß sie einander dort nicht begegnet wären; umgekehrt
formuliert: Sie haben da sicher dem gleichen Milieu angehört.
Dann kam der Tag, wo Karadzic von den Anhöhen auf die
Stadt schoß, wo sich ein Belagerungsring um Sarajevo schloß ... und die serbische
Soldateska begann, Karahasan gezielt nach dem Leben zu trachten. Merkwürdige
Verschiebungen ...
Zurück zu Mappes-Niediek (hier auf dem Foto neben
Kunsthistorikerin Mirjana Peitler-Selakov) und seiner Metapher, den Medienbetrieb als
"Prisma" zu sehen. Er nickte zur Annahme, wir hätten keine angemessenen
Medienkompetenzen, um erneut zu bündeln, zu fokussieren, was das Prisma ausstreue.
"Das ist ja auch physikalisch nicht möglich", meinte er.
Vor diesem Hintergrund spielt ja etwa die Kategorie
"Web 2.0" gar keine beeindruckende Rolle. Abgesehen davon, daß
"Westler" irgendwie nicht kapieren wollen, daß Netzzugänge und
Übertragungsraten, wie wir sie für Mindeststandard halten, in anderen Ländern nicht
einmal Gegenstand von Träumen sind. (Und da meine ich jetzt nicht unbedingt das Kosovo,
wo es nur einige Stunden am Tag Strom gibt.)
Von links: Mirjana Peitler-Selakov,
Nenad Popovic,
Autorin Sladjana Bukovac und Norbert Mappes-Niediek
Übrigens: Es darf davon ausgegangen werden, daß wir diese
Nacht noch etwas ausgeheckt haben. Wenn das etwas mehr Hand und Fuß hat, werde ich davon
erzählen.
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