25. November 2009

Der Autor Nenad Popovic legte gestern einen mit Augenzwinkern abgefaßten Befund über die wechselseitigen Klischeelagen zwischen den Leuten in Westeuropa und jenen auf dem sogenannten "Balkan" vor.

log1505a.jpg (21771 Byte)

Wir haben uns offenbar quer über den Kontinent schon so lange in allerhand Stereotypen und problematische Zuschreibungen verheddert, daß es sehr verlockend erscheint, sich mit den gefälligen und handlichen Stereotypen gut einzurichten. Das ist freilich alles andere als lustig.

Einer der vielleicht verstörendsten Aspekte jener Vorgänge, die Popovic reflektiert hat, ist das enorme Tempo, in dem gebildete Leute mit ... genau!, reichlich Reflexionsvermögen in kürzester Zeit bereit waren, Waffen in die Hände zu nehmen und gegen vertraute Nachbarn vorzugehen.

Selbst Goebbels habe Jahre gebraucht, um kritische Intelligenz ausreichend zu vertreiben und sich vom Rest der Intellektuellen welche dienstbar zu machen, meinte Popovic sinngemäß. NCC09_200.jpg (4677 Byte)

Im vormaligen Jugoslawien ging das dann wesentlich flotter. Popovic betonte zwar die konstituiernde Rolle der Medien in der Eskalation der Konflikte, die sich im Sezessionskrieg Jugoslawiens entluden, merkte aber an, daß "Haßsprache" schon weit verbreitet war und längst vor dem Durchbruch der neueren Massenmedien geübt wurde.

log1505b.jpg (28667 Byte)

Der Publizist Norbert Mappes-Niediek, sowohl mit den Fragen des Medienbetriebs als auch mit den Belangen Südosteuropas bestens vertraut, brachte in der anschließenden Debatte noch einen anderen Zusammenhang ins Blickfeld. Der Medienbetrieb sei wie ein Prisma, meinte er. Daraus resultiert eine enorme Diffusion von Informationen. "Jeder kann alles lesen", sagte er zum grundsätzlichen Stand der Mediensituation, zur Verfügbarkeit von Texten und Informationen.

Dabei bleiben wir aber auf zweierlei hocken: Der Bewertung der Quellen und der Bewertung der Texte, wonach wir entsprechend aus der verfügbaren Flut zu wählen haben. Popovic erzählte von einem sehr kuriosen Phänomen. Wo auf den breit verfügbaren Radios in Jugoslawien die Senderskala bloß eine Zeigerbewegung von rund einem Zentimeter verlangt hätte, um etwa zwischen einem serbischen und einem kroatischen Sender hin- und herzuschalten, was bedeutet hätte, eine Sache von beiden Seiten beleuchtet zu bekommen, hätten sich beunruhigend viele Menschen dafür entschieden, genau diesen Schritt nicht mehr zu tun.

log1505c.jpg (26579 Byte)

Ein eigenes Kapitel sind dann noch jene Medienleute, Intellektuelle, Regisseure und anderes Personal der Meinungsbildung, die völlig ansatzlos von einem Regime zum anderen umsteigen, mehr noch, die etwa einen Film einfach neu montieren, mit anderen Untertiteln versehen und damit quasi zur eigenen, vorherigen Position gewissermaßen in Opposition treten. Offenbar problemlos, offenbar teilweise sogar "in eigenem Auftrag", also ohne erkennbaren Druck von außen.

Dienstbarkeit der Tyrannis gegenüber, schlagartige Feindschaft gegenüber vormaligen Freunden ... Nenad ist mit Dzevad Karahasan gut befreundet, der Gast meines ersten Beitrages zur ersten "NCC" im Jahr 2001 gewesen ist: "Literatur und Netz: Erzählen in neuen Räumen" [link]

Dzevad sei ein leidenschaftlicher "Kaffeehausliterat" gewesen, Radovan Karadzic, Psychologe und Schriftsteller, habe sich ebenso gerne in den Kaffeehäusern von Sarajevo aufgehalten. Es sei also praktisch ausgeschlossen, daß sie einander dort nicht begegnet wären; umgekehrt formuliert: Sie haben da sicher dem gleichen Milieu angehört.

Dann kam der Tag, wo Karadzic von den Anhöhen auf die Stadt schoß, wo sich ein Belagerungsring um Sarajevo schloß ... und die serbische Soldateska begann, Karahasan gezielt nach dem Leben zu trachten. Merkwürdige Verschiebungen ...

log1505d.jpg (23383 Byte)

Zurück zu Mappes-Niediek (hier auf dem Foto neben Kunsthistorikerin Mirjana Peitler-Selakov) und seiner Metapher, den Medienbetrieb als "Prisma" zu sehen. Er nickte zur Annahme, wir hätten keine angemessenen Medienkompetenzen, um erneut zu bündeln, zu fokussieren, was das Prisma ausstreue. "Das ist ja auch physikalisch nicht möglich", meinte er.

Vor diesem Hintergrund spielt ja etwa die Kategorie "Web 2.0" gar keine beeindruckende Rolle. Abgesehen davon, daß "Westler" irgendwie nicht kapieren wollen, daß Netzzugänge und Übertragungsraten, wie wir sie für Mindeststandard halten, in anderen Ländern nicht einmal Gegenstand von Träumen sind. (Und da meine ich jetzt nicht unbedingt das Kosovo, wo es nur einige Stunden am Tag Strom gibt.)

log1505e.jpg (32112 Byte)

Von links: Mirjana Peitler-Selakov, Nenad Popovic,
Autorin Sladjana Bukovac und Norbert Mappes-Niediek

Übrigens: Es darf davon ausgegangen werden, daß wir diese Nacht noch etwas ausgeheckt haben. Wenn das etwas mehr Hand und Fuß hat, werde ich davon erzählen.

[next code: asking | dokumentation]


[kontakt] [reset] [krusche]

47•09