17. Juli 2017 Ich habe
die Stadt Fürstenfeld erheblich unterschätzt. Auf dieser Reise zu den Stellen, wo sich
eine Tiefe unserer Geschichte auftut, ist so viel Staunenswertes. Ich wußte übrigens
bisher nicht, daß man die Stadt in Ungarn Fölöstöm nennt. Seit jeher im
Grenzgebiet. Vormals nahe dem Paschalik Ofen, einem osmanischen Amtsbezirk, der
einem Pascha unterstand. All das im Bereich der alten Militärgrenze.
All die gehabte Unruhe und das stets bedrohte Leben. Aber
auch die Stadt mit ihren Mauern, Basteien, Toren. Drinnen die Zivilisation, draußen die
Wildnis. Das sind immer noch prägende Denkmuster. Wir und sie.
Beim Grazer Tor findet man eine Arbeit des
Bildhauers Hans Mauracher, der aus dem Zillertal in die Steiermark gekommen war. Es
heißt, der "B'soffene Türck" sei eigentlich Krieger eines kroatischen
Entsatzheeres, das gegen Truppen von Matthias Corvinus ausgeschickt worden war,
aber statt auf dem Schlachtfeld in den Weinkellern der Stadt landete.
Wer sich in der Pfeilburg die alten Blankwaffen
ansieht, hat gewiß allerhand Verständnis für solche Planänderungen. Wie muß ich mir
solche Waffengänge vorstellen? Mit welchen Auffassungen setzte man sich diesen Gefahren
aus, wo schon ein Keulenschlag genügte, um einen übel zuzurichten, auf daß einem keine
Hilfe mehr angedieh. Welche Mittel hätte man damals gehabt, um darüber hinaus die Wunden
von Hieb und Stich zu versorgen? (Das einfache Aufgebot hatte bestenfalls Drischel
als Waffen, eben Bauernwerkzeug, vielleicht eine umgeschmiedete Kriegssense, bestenfalls
ein langes Messer am Gürtel.)
Und wie erhielt man sich die Zuversicht? Marodierende Kuruzen,
osmanische Akindschi, die Renner und Brenner, Janitscharen... Es ist uns
heute eigentlich nicht mehr vorstellbar, welchen Bedrohungen die Ansässigen einst laufend
ausgesetzt waren. Wie mag sich ein Leben mit solchen Gefahren und Feindbildern
mentalitätsgeschichtlich über zum Beispiel 50 Generationen auswirken? Was tragen wir aus
solchen Gegebenheiten in uns und mit uns?
Ich staune übrigens auch über derlei öffentlich
ausgehängte Fallgeschichten, wie die eines Klerikers, den also "einfallende
Ungarn" ums Leben gebracht haben. An anderer Stelle wird per Steintafel an den
Kartographen P. Johannes Clobucciarich erinnert, der auf Krk geboren wurde, im
Augustinerkloster als Prior tätig war, "gestorben auf der Flucht vor den
einfallenden Ungarn". Sind das nun schon Produktionsmomente von Feindbildern?
Ist das von der Art, wie die Habsburger Schriften gegen die Osmanen als innenpolitische
Propaganda genutzt haben?
Die Strategie einer Selbstdefinition durch
Feindmarkierung ist bis in unsere Gegenwart sehr populär. Manchmal mögen reale
Leidensgeschichten darunter liegen, manchmal erfundene. (Die Selbststilisierung kann eben
mitunter auf Opfer keine Rücksicht nehmen.)
Ich hab das in den letzten Jahren immer wieder zum Thema
unserer Arbeit gemacht, verstärkt ab 2013, als wir 2014 vor uns liegen hatten, das
Erinnern an den Großen Krieg. 2013/2014 waren unsere Kunstsymposien jeweils der
Auseinandersetzung mit Leuten aus Österreich, Serbien, und Bosnien-Herzegowina gewidmet.
Dahinter lagen Jahre realer Begegnungen, die von den Folgen der Jugoslawienkriegen
gefärbt wurden.
Wir waren ja längst nicht mehr bloß auf die Lektüre von
Geschichtsbüchern angewiesen. Im Untergang Jugoslawiens hat Europa noch einmal
durchgenommen, was nach Verdun und nach Auschwitz geführt hat, um in Srebrenica
anzukommen. Vor geraumer Zeit traf ich eine Bosniakin, die seit den Jugoslawienkriegen in
Schweden lebt. Unser Gespräch über jenen Lauf der Dinge rund im die Stadt Prijedor
führte zu einem Punkt, da sie sagte: "Ich hab gar nicht gewußt, daß ich eine
Muslimin bin, bevor die serbischen Leute vor unserem Haus standen."
Identität, das heißt eigentlich Identitäten.
Wir sind auf viele Arten zugehörig und wir decken uns gewöhnlich mit weit mehr
Schichten, als uns im Alltag vor Augen steht. Ich erinnere mich an eine Hochzeit, da hatte
es der Bräutigam untersagt, bei der Band Musikwünsche zu deponieren. Auf den Grund
dafür würde man bei uns kaum kommen.
Es war noch zu wenig Zeit seit dem Untergang Jugoslawiens
vergangen und es stand daher zu befürchten, daß Lieder gewünscht würden, die im
blutigen Zerfallen des südslawischen Staates einer einzelnen Ethnie zugeordnet wurden,
Serben Kroaten oder Bosniaken, was nun, bei der Hochzeit, Angehörige einer der jeweils
anderen Ethnien brüskieren könnte.
Ich erinnere mich an eine andere Situation, da eine Frau zu
mir sagte: "Meine Mama ist jüdisch. Macht dir das was?" Bei meinen
bescheidenen Kenntnissen der jüdischen Kultur wußte ich somit, wenn die Mutter jüdisch
ist, dann ist die Tochter es auch. Allerdings hat in ihrem Alltagsleben nichts drauf
hingwiesen.
Identitäten ergeben sich eben nicht bloß aus dem
Selbstverständnis von Menschen, sondern auch aus den Zuschreibungen von außen. Die
Eingangs erwähnte Hochzeit illustriert, was uns offenbar quer durch Europa als ein
Koordinatensystem nützlich ist, solange es nicht per Ideologie in Menschenverachtung
kippt. Die kulturellen Markierungen werden dabei an Religionen festgemacht. Das betrifft
dann natürlich auch jene, die nicht religiös sind.
Bei jenem Fest war ich daher mit orthodoxen, muslimischen,
katholischen und jüdischen Leuten an den Tischen, wohl auch mit Atheisten,
möglicherweise mit dem einen oder anderen Menschen, der in den Kriegen Verbrechen
begangen hatte, was sich schließlich auch auf ein kulturelles Konzept bezieht, doch wer
immer was auch immer sein mochte, das sah man den Menschen nicht an.
Einzig über den Clan-Chef wußte ich, daß er (als Moslem)
entsetzliche Erfahrungen gemacht hatte, wo er serbischen Verbänden nicht entkommen
konnte. Aber selbst so extreme Erlebnisse malen einem kein Zeichen auf die Stirn. Wer es
über ihn nicht erzählt bekam, konnte es nicht wissen.
Jahre später saß ich an der Seite eines Mannes mit milder
Seele vor Publikum. Der bosnische Dichter hatte Folterlager wie Keraterm und Trnopolje
überlebt. Seine Fassung unter dieser Bürde war stärker als meine vergleichsweise
unerhebliche Belastung, etwas von seinen gehabten Peinigungen zu wissen.
Ich verwahre einige seiner Bücher, an denen mich am
meisten bedrückt, daß nachzulesen ist, wie still jemand sterben kann, der den Folgen
unerbittlicher Mißhandlungen nicht mehr gewachsen ist. Davon erzählen jene Gedichte. Was
schert uns das? Heute geht es offenkundig nicht mehr bloß um die Koexistenz mit Nachbarn,
die uns eventuell fremd erscheinen. Es geht um eine Koexistenz mit den anderen Menschen
dieser Welt. Das sind heute völlig verschobene Dimensionen...
-- [Kunstsymposion 2017:
Koexistenz] -- |