29. Jänner 2018 Um zu
verstehen, wo wir mit diesem Europa heute gelandet sind, nützt es, sich unsere
Wirtschaftsgeschichte stellenweise näher anzusehen. Dabei finde ich einen speziellen
Zusammenhang sehr interessant. Wo derzeit die Kategorien Volk, Kultur, Heimat und Nation
in die Debatte kommen, werden immer noch Motive strapaziert, die aus der bäuerlichen Welt
abgeleitet sind.
Aus "Agronomische
Zeitung", Leipzig 1865
Ich hab im vorigen
Eintrag notiert, Österreichs vaterländisches Politikpersonal könne zwischen Heimat
und Vaterland nicht unterscheiden, weil "diese Begriffe Ideologisch in
Deckung gebracht wurden, um die geistigen und politischen Krisen jener Zeit zu
bewältigen". Das wurzelt unter anderem in wirtschaftlichen Kräftespielen der
Industriellen Revolution, wo Arbeiterschaft und agrarisches Proletariat gegeneinander
in Stellung gebracht wurden.
Das Erbe dieser ideologischen Frontstellung hat wohl auch
mich dazu gebracht, mir von all dem ein bipolares Bild zu machen. Dazu paßt, was in der
jüngeren Vergangenheit als Kontrast zwischen bäuerlicher und industrieller
Landwirtschaft betont wurde, ohne daß den meisten Menschen klar wäre, worin sich die
genau unterscheiden.
Kleiner Einschub: Ich hab mir erklären lassen, nicht die
Größe eines Betriebes habe dabei wesentliche Aussagekraft, sondern wie mit Boden und
Wasser umgegangen werde und was sonst noch die Fragen der Nachhaltigkeit betrifft.
Heinrich Bortis, an der Universität Freiburg mit
Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaft befaßt, schrieb: Die industrielle
Revolution wäre nicht möglich gewesen, ohne eine Agrarrevolution: Es muss ein
beträchtlicher landwirtschaftlicher Überschuss vorhanden sein, damit ein Industriesektor
aufgebaut werden kann.
Durch derlei Lektüre fiel mir auf, daß sich dieser
Zusammenhang schon ab der Antike als plausibel erweist. Dem ging voraus, daß seit der Neolithischen
Revolution und der Erfindung des Ackerbaus dieses Metier im Kern von erheblichen
Mühen handelt, von einer endlosen Plackerei, die sich nur sehr langsam mildern ließ.
Diese schrittweise Milderung hat allerhand mit technischen Innovationen zu tun.
Aus "Agronomische
Zeitung", Leipzig 1865
Im Eintrag vom 22.
Jänner hab ich erwähnt, was diese Ackerbauern für gewalttätige Menschen waren, die
eine in der Geschichte offenbar neue Art der Grausamkeit etabliert haben. Im Eintrag vom 23. Jänner bin ich auf den Pflug
gekommen, an dem sich exemplarisch zeigt, wie lange es jeweils gedauert hat, daß die
Menschen durch entsprechende Ideen auf technische Innovationen kamen, die manche
Arbeitsbereiche erleichterten.
Bortis faßte die Krisenanfälligkeit jener Zeiten so
zusammen: "Bei Ernteschwankungen waren Versorgungskrisen unvermeidlich. Im
schlimmsten Fall bedeutete dies den Niedergang des wirtschaftlichen Lebens und der
Zivilisation, die sich darauf gründete." Die technisch begründeten Auswege
sind geschichtlich sehr jung. Bortis: "Dieser landwirtschaftliche Engpass wurde
durch grundlegende Veränderungen im System der landwirtschaftlichen Produktion, die der
industriellen Revolution (um 1770-80) vorausgingen, überwunden."
Das karge Leben der Menschen in der agrarischen Welt
dauerte freilich bei uns noch bis nach den Zweiten Weltkrieg herauf. Aus all diesen
Entwicklungen läßt sich zusammenfassend ableiten: Keine Industrielle Revolution ohne
Agrarrevolution. Das ging Jahrtausende Hand in Hand. Ich vermute, daran wird sich so
bald nichts ändern.
Es gilt übrigens nicht bloß für Europa. Bei einem
amerikanischen Fachmann für Industriedesign hab ich das gleiche Motiv entdeckt. Carroll
Gantz schrieb mit The Industrialization of Design (A History from the
Steam Age to Today) ein Standardwerk. Da heißt es schon im ersten Kapitel: England
hat im 17. Jahrhundert durch den Gebrauch von Dünger eine agrarische Revolution erfahren,
durch die mehr Nahrung produziert werden konnte und so mehr Freizeit für viele Bürger
entstand, dank derer sie andere, mehr kreative Unternehmungen ausloten konnten.
Die britische Land- und Agrarreform zu jener Zeit war zwar etwas komplexer, aber der
Zusammenhang ist stichhaltig.
Da wir derzeit in einem gewaltigen technischen
Innovationsschub stecken, durch den wir völlig neu klären müssen, zu welchen Rollenverteilungen
die Koexistenz von Menschen und Maschinen führt, nehme ich an wir sollten weiter daran
arbeiten, Industrielle Revolution und Agrarrevolution zusammenzudenken, statt sie als
getrennt oder gar konträr aufgestellt zu verstehen.
Aus "Agronomische
Zeitung", Leipzig 1865
Das ist gleichermaßen sozial und politisch sehr brisant.
Erstens haben wir aus dem westlichen Wohlstand heraus die agrarischen Märkte auf anderen
Kontinenten durch das Abladen subventionierter Überschüsse ruiniert, was unzählige
Existenzen zerstörte. Zweiten wird die Zahl der Klimaflüchtlinge weltweit noch
exorbitant zunehmen, wobei die Industrialisierung auch eine Rolle spielt. Das heißt ganz
einfach, der Druck durch Flüchtlingsbewegungen, die wir durch unsere Lebensart
mitausgelöst haben, wird für uns weiter steigen.
Alles, was wir derzeit darüber wissen, bekräftigt die
Annahme, daß diese Flüchtlingsbewegungen durch kein Meer, keine Mauer, keinen Zaun, auch
nicht durch bewaffnete Mannschaften aufzuhalten sind. Das bedarf daher ganz anderer
Konzepte zur Lösung.
Ich hab im Eintrag
vom 18. Jänner eine schlichte Generationenfolge erwähnt: Großvater, Vater und
Sohn. In meinem Fall der mir vertrauten Verhältnisse [link] handelt das
von drei grundverschiedenen Staatsformen, für die drei markante Slogans stehen:
+) Für Gott, Kaiser und Vaterland!
+) Ein Volk, ein Reich, ein Führer!
+) Österreich zuerst!
Genau dieses "Österreich zuerst!" war
mindestens implizit ein zentraler Inhalt des politischen Werbens in etlichen der Kampagnen
des jüngsten Wahlkampfes, der zur jetzigen Regierung geführt haben. Genau diese
Regierung zeigt in keiner Weise, daß man sich den oben skizzierten Problemlagen der
Gegenwart und der nahen Zukunft widmen möchte; und zwar vorzugsweise als Teil einer
internationalen Gemeinschaft, denn ein Zwergstaat wie Österreich hat für sich keinerlei
adäquate Möglichkeiten, an brauchbaren Lösungen allein zu arbeiten.
Wenn unser 2018er Kunstsymposion den Titel "Interferenzen"
trägt, dann ist das derzeit mein bevorzugtes Bild für dieses unermeßliche
Durcheinander an Themen und wirkenden Kräften, von denen unsere Zeit gerade bewegt wird,
unser aller Leben, wobei eines neu ist, auch wenn dieses Ineinandergehen der Genres und
Themen alt sein mag. Das Tempo technischer Innovationen, in dem wir Menschen
keine hinreichenden Adaptionsphasen mehr haben, ist inzwischen ein enormes Problem.
Nun ist es nicht Aufgabe der Kunst, diese Probleme zu
lösen, denn die Kunst ist keine Reparaturwerkstatt. Aber die Befassung mit
Kunst, egal ob schaffend oder rezipierend, bietet Wahrnehmungserfahrungen und
Reflexionsprozesse, die Denkweisen begünstigen, dank derer man gelegentlich aus
eingefahrenen Spuren herausfindet.
Genau das ist ein wesentlicher Zusammenhang, in dem die
Gesellschaft gute Gründe findet, sich nicht mit Entertainment und Dekoration zu
begnügen, sondern in die Kunstproduktion und Kunstpräsentation zu investieren.
-- [Das 2018er Kunstsymposion] -- |