Blatt #135 | KW
43/2020
Ethnos, Demos und die Fliegerei
Ab dem Jahr 1900 beschleunigte die Mechanisierung und
Motorisierung Europas in riesigen Schritten. Es dauerte bloß ein
Jahrzehnt, dann waren neue Produktionstechniken so weit
entwickelt, daß die Zweite Industrielle Revolution mit aller
Wucht einsetzen konnte, um die Gesellschaften fundamental zu
verändern.
Ich befasse mich aktuell wieder intensiver mit
den „Renner-Buben“, den Cousins meiner
Großmutter Marianne. Ein
Teilthema, für welches der Fokus auf das Jahr 1909 gerichtet
bleibt. Dieses Jahr funkelte zu jener Zeit auf vielfache Art.
Tissandiers elektrisches Luftschiff von 1880 (aus Harry F.
Delacombe: „The Boy‘s Book of Airships“, 1909)
Reinhard Desoye notierte in seiner
Magisterarbeit „Die k.u.k. Luftfahrtruppe - Die Entstehung,
der Aufbau und die Organisation der österreichisch-ungarischen
Heeresluftwaffe 1912-1918“ an einer Stelle, daß
Generalstabschef Conrad von Hötzendorf seit November 1906 auf
einen Ausbau der k.u.k. Luftschifferabteilung gedrängt habe,
„aber wieder einmal stieß er auf taube Ohren“.
Desoye: „Wie so oft in Österreich mußte erst der Zufall
nachhelfen, damit die Sache ins Rollen kam: die Grazer
Artistenfamilie Renner baute sich 1908 ein etwa 700 m3 großes
Pralluftschiff für ihre akrobatischen Vorführungen und nannte es
‚Estaric I‘. Nach ersten Auftritten in Graz führten sie ihr
Luftschiff am 16. Oktober 1909 in Gegenwart des Kaisers in Wien
vor.“
Renners „Estaric I“ über der Kuppel der Wiener Rotunde
(Das interessante Blatt, 28.10.1909)
Seine Majestät war sehr angetan und Desoye nimmt eine
interessante Wertung vor: „Diese kaiserliche Anerkennung
macht die Lenkluftschiffahrt über Nacht gesellschaftsfähig - was
eben noch als Artistenspielzeug abgetan war, wurde nun ein ernst
zu nehmendes Kriegsinstrument!“
Freilich haben sich
Militärs stets für technische Innovationen interessiert, um die
Schlagkraft ihrer Armeen zu erhöhen. Aber Österreich ist darin
nicht gerade Avantgarde. Eines der bedeutendsten Beispiele ist
der Austro-Daimler Panzerwagen, ein frühes Allradfahrzeug, das
der Monarch beim Kaisermanöver von 1906 als unbrauchbar abgetan
hat, weil das Starten des Motors einen seiner Freunde vom
hochgehenden Pferd aus dem Sattel fallen ließ.
„Blériots Apparat Nr. 11 war wieder zierlicher und
einfacher; er war mit einem 3-Zylinder-Anzani-Motor von 24 PS
ausgerüstet. Mit diesem Typüberflog er am 25. Juli 1909 als
erster den Kanal von Calais nach Dover.“ aus heinz Erblich:
„Moderne Flugzeuge in Wort und Bild“ (1916)
In meinen Notizen habe ich schon einige wichtige Aspekte rund um
den zeitlichen Schwerpunkt erwähnt: „Das
Jahr 1909“ und „Der
taumelnde Kontinent“ Der französische Aviator Louis
Blériot war damals von prägender Bedeutung. Ich hab den
Deutschen Hans Grade erwähnt. Auf österreichische Konstrukteure
wie Igo Etrich und Flieger wie Eduard Nittner werde ich noch
näher eingehen.
Außerdem habe ich hier schon „Edvard
Rusjan, Flugpionier“ erwähnt, der als Sohn eines
Faßbinders erst einmal Modelflugzeuge baute und so seine
Leidenschaft lebte. Schließlich ging er mit seinem Bruder Josip
daran, große Flugapparate anzufertigen und zu erproben. xxxx
Slowenische Drei-Euro-Münze mit Rusjans Bildnis.
Die Flugzeuge Eda I bis Eda VII trugen die Kosenamen für Edvard
= Eda. (Josip wurde Jože gerufen.) Ich erwähne das, weil damit
deutlich werden soll, daß Ethnos und Demos zweierlei sind. Wir
nennen Österreich-Ungarn gerne „Altösterreich“, wozu erwähnt
werden sollte, daß dieses Imperium ethnisch betrachtet ein
bedeutender slawischer Staat war.
Der deutschsprachige
Wikipedia-Eintrag promotet Rusjan: „ein
österreich-ungarischer Luftfahrtpionier“. Der slowenische
Eintrag nennt ihn „slovenski letalski konstruktor, pilot in
pionir letalstva“, was bedeutet: „Slowenischer
Flugzeugkonstrukteur, Pilot und Pionier der Luftfahrt“.
Die Briefmarke in meiner
vorigen Notiz stellt
ihn als Aviator Jugoslawiens vor: „50 godišnjica prvih
letova u jugoslaviji", also: 50. Jahrestag der ersten Flüge
in Jugoslawien“. Notitzen wie „…first Slovene made
airplanes. Designed and manufactured by Edvard and Josip Rusjan“
sind etwas schlampig formuliert.
Aber es war damals
ohnehin allgemein gebräuchlich, daß man sich erfolgreiche
Konstruktionen anderer Leute ansah, sie nachbaute und in Details
um eigene Ideen ergänzte. Doch die Sache mit Österreich-Ungarn,
Jugoslawien und Slowenien?
Detail der jugoslawischen Briefmartke
Als Staatsbürger war Rusoj zu Lebzeiten Österreicher. Demos
(Staatsvolk) und Ethnos (kulturelle Gruppe) sind zwei
verschiedene Kategorien. Der Lebens- und Kulturraum des
historischen Edvard Rusoj gehörte über die letzten rund 100
Jahre zu vier verschiedenen Staatsgebieten: +) Die
Österreichisch-Ungarische Monarchie +) Der SHS-Staat = Staat
der Slowenen, Kroaten und Serben +) Jugoslawien +)
Slowenien
Ich denke, es ist völlig legitim, Rusoj heute
als slowenischen Aviator zu bezeichnen, denn das ist sein
ethnischer Ursprung. Im Untergang Jugoslawiens kam es am 25.
Juni 1991 zu einer Unabhängigkeitserklärung Sloweniens. Damit
wurde aus der einstigen Teilrepublik Jugoslawiens erstmals ein
völlig unabhängiger, souveräner Staat Slowenien.
Es gibt
in Europa keinen souveränen Staat ohne nationales Narrativ. Für
solche Erzählungen sind markante Figuren unverzichtbar. Äußerst
naheliegend, daß Slowenien den Flieger Rusoj dafür in Anspruch
nimmt, wie zum Beispiel auch Johann Puch, der als ethnischer
Slowene namens Janez Puh auf die Welt kam.
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