11. Jänner 2015

Ich lese, wir hätten es gerade mit dem Islam, mit Islamismus und mit radikalem Islamismus zu tun. Kein sehr vertrauenerweckendes Wording. Ich bleibe dabei skeptisch, werde aber die ideologische Selbstdarstellung der Attentäter nicht irgnorieren, weil mich das erahnen läßt, womit wir es zu tun haben, wenn wir über sie hinausblicken.

Vielleicht tragen wir über solche schlampigen Zuschreibungen bei, das Phänomen größer und effizienter zu machen. Ich vermute, wo es gerade nicht deutlich beiträgt, eine Sachlage zu erhellen, sollte man diesen Kanaillen und Mördern das Etikett vorenthalten, ihnen damit die Bühne kleiner machen.

In der medialen Vermittlung bliebe dann wohl überwiegend nur von Kanaillen und Mördern zu sprechen. Ohne die Schlampereien der Boulevardpresse wäre wahrscheinlich der Anreiz, sich unter die Dschihadis zu reihen, sehr viel geringer, weil es weniger Imagegewinn und Ruhm brächte. Genau das -- Imagegewinn und Ruhm -- dürfte schließlich das Hauptbegehren eines Menschen sein, der bewaffnet und vorsätzlich in den Tod geht.

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Europäische Werte? Die Erklärung der Menschenrechte hatte in ihren
ersten Stunden schon eine größere Dimension (Quelle: Kleien Zeitung)

Ich behalte im Fokus, daß die aktuellen Täter Kinder Frankreichs sind, europäische Menschen, die sich, wie gestern schon erwähnt, einer konkreten Subkultur zugehörig fühlten, wie es in einer Massengesellschaft nun einmal viele Subkulturen gibt. Das ist nicht "der Islam", denn die weltweite Umma hat zu viele Facetten, als daß diese Kanaillen repräsentativ sein könnten. Das ist bloß eine von mehreren Weltuntergangs-Sekten, von der wir da und dort erfahren.

Ich habe gestern notiert, daß an den Kommandoaktionen in Paris und Vincennes drei Hauptziele erkennbar waren:
a) Andersdenkende (Autoren und Zeichner),
b) das Bodenpersonal des etablierten Regimes (Polizeikräfte) und
c) Juden (der koschere Laden).

Jetzt addieren wir noch Kriegswaffen (automatische Karabiner), militärisches Training (traditionelle Infanterie-Taktik) und Todesverachtung. Was können wir aus genau diesen Zutaten zusammenkleistern? Alte und neue Nazi deutscher und längst auch anderer Provenienz, ungarische Schwarzhemden, serbische Tschetniks, russische Vaterländische und und und...

Die drei Kanallien mögen sich für Muslime gehalten haben, sie mögen ihre Menschenverachtung mit religiösen Gefühlen versüßt haben, sie mögen einer Subkultur angehört haben, die wir als "islamisch" beschreiben können, das ziehe ich gerne in Betracht. Aber bei all dem sind sie eben auch Kinder Europas in der altvertrauten Kerl-Nummer des "soldatischen Mannes". Sie zeigen sich intellektuellenfeindlich, judenfeindlich, das herrschende Regime hassend.

Das war schon ein Standardprogramm meiner Großväter, dagegen hatte sich auch mein Vater nicht mit aufgestrickten Ärmeln gestemmt. Die Nazi-Brut, der ich entstamme, mußte vor allem einmal von der Roten Armee und von Amerika militärisch besiegt werden, bezog dann ersten wesentlichen Demokratie-Unterricht aus den USA, nicht zu knapp von jüdischen Leuten, die hierzulande bis heute verachtet werden, auch gehaßt. Was also diese "Moslems" ausmacht, kenne ich auch von meinen Leuten.

Die menschenverachtenden Kanaillen aus Frankreich sind viel mehr meine Brüder im Geiste des alten und teils auch des gegenwärtigen Europa, als sie Brüder der Umma sein mögen. Wir haben mehr gemein als die für möglich gehalten hätten.

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Sie sind keine "Wüstensöhne", sondern unsere Nachbarn gewesen, in einem der prägendsten Länder Europas groß geworden. In welchem Frankreich, in welchem Europa sind diese Mörder aufgewachsen? In jenem "von Sarkozy, der die Banlieues mit den Dampfstrahlern von dessen sozial marginalisierten Jugendlichen reinigen lassen wollte?" So habe ich am 29. August 2008 hier notiert: [Quelle]

Dieses Motiv geht auf 2005 zurück, da der selbstverliebte Klatschpressen-König Sarkozy angesichts brennender Straßen den Macho gab. Im November 2005 habe ich notiert: "Inzwischen werden Zahlen genannt. Rund 2.000 Randalierer sind in Haft. Davon sind gerade mal 120 Ausländer. Die anderen eben: Franzosen." [Quelle]

Darin liegt auch schon eine deutliche Anregung, was wir, wir alle, tun können, um solche Entwicklungen zu blockieren. Wir können uns quer über den Kontinent für Verteilungsgerechtigkeit engagieren, für Bildungs-Chancen und für ein höheres Ansehen von Wissensarbeit. (Ist es nicht meine Generation, die an allen wesentlichen Schalthebeln hockt, um unsere Bildungssysteme gerade weitere Jahre in den Graben zu fahren?)

Wenn wir unsere Kinder klug unterrichten und solide ausbilden, wenn wir jenen in den Arm fallen, die für 40 Wochenstunden bloß Hungerlöhne zahlen etc., werden etliche Wege zur Menschenverachtung damit schon umgeleitet.

Wen wir jene, die nur ihr Geld arbeiten lassen, statt selbst zu arbeiten, zwingen, das Gemeinwesen adäquat mitzufinanzieren, werden etliche Wege zur Menschenverachtung damit schon umgeleitet. Und immer wieder: Wissenserwerb wie Bildung zu höherem Prestige verhelfen, Wissensarbeit wieder besser bezahlen.

Was für ein anschaulicher Zufall, daß der Publizist und Kulturexperte Thomas Trenkler am letzten Freitag "In eigener Sache" schrieb: "Aus eigenem Antrieb hätte ich den 'Standard', für den ich seit 1993 arbeitete, wohl nicht verlassen. 'Der Standard' ist eine wunderbare Zeitung mit großartigen Kolleginnen und Kollegen, die zu Freunden geworden sind."

Trenkler begründet: "Aber in der Geschäftsführung gelangte man im Frühjahr 2014 zur Überzeugung, dass ein Gutteil der Journalisten, die das Ihre dazu beigetragen haben, dass der 'Standard' zum Standard wurde, zu viel verdienen. Denn man verschenkt ja deren Produkte, also die recherchierten Artikel und wohl überlegten Kommentare, samt und sonders im Internet. In Zeiten der Wirtschaftskrisen geht sich das irgendwann nicht aus." [Quelle]

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In unserem kulturellen Engagement sehe ich seit Jahren, daß wir zuerst einmal die weitreichende Abwertung der Wissensarbeit verschnarcht haben, um ihr nun meist ratlos gegenüberzustehen. Trenkler schildert, was dabei herauskommt.

Ich hab 2013 notiert: "Wir haben uns hier in Europa längst von einer Industriegesellschaft zu einer 'wissensbasierenden Gesellschaft' gewandelt, auch wenn diese Transformation noch nicht im Kasten ist." [Quelle] Mein Milieu reagiert auffallend gespalten. Ein geringer Teil rafft sich auf, dieses Thema zu bearbeiten. Ein auffallend großer Teil bleibt im regionalen Kulturbetrieb mit Selbstrepräsentation beschäftigt.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich spreche nicht dafür, daß die Kunst für derlei soziale Aufgaben instrumentalisiert werden solle, denn die Kunst ist kein soziokulturelles Reparatur-Set. Ich spreche dafür, daß Kunst- und Kulturschaffende ihre Kompetenzen aus der Befassung mit Kunst in das Gemeinwesen einbringen.

In meinem vorhin zitierten Text steht auch: "Wissen will stets neu erschaffen werden. Es liefert keine „Wahrheit“, sondern bloß die Rohstoffe für unsere Problemlösungen. Es gibt also kein Wissen ohne Nichtwissen. Der Wissenserwerb verlangt in diesem Sinn nach kollektiven Bemühungen, nach gemeinsamem Tun."

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