20. Mai 2014

In „Die Papiere des Teufels“ läßt Nestroy den Schreiber Federl singen: „Das ist wohl nur Chimäre, aber mich unterhalt’s!“ Figuren, die Nestroy zur Belustigung und Erbauung auf die Bühne gestellt hat, waren selbstverständlich dem realen Leben abgeschaut.

Ich tue hier nichts anderes, ohne mich jedoch mit Nestroy messen zu können. Allerdings hat der so seine Epigonen. Vor rund einem Jahrzehnt trieb sich im Kielwasser meiner Aktivitäten zum Beispiel der Brachialdichter und Freund der Heimat Hansi N. Neststreu.

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Das ist wohl nur Chimäre, aber mich unterhalt’s!

Kein netter Mensch, wie ich versichern darf, aber ein unerschütterlicher Anhänger des Endreims mit poetischen Schwächen und moralischer Chuzpe. Davon vielleicht später. Zu Neststreu siehe etwa „glosse (oder: sosse?)“ von 2010: [link]

Wir müssen uns noch eingehender über Pop unterhalten! Natürlich ist jetzt, nachdem Conchita Wurst medial reüssiert hat, auch von David Bowie die Rede. Medienleute legen derzeit Listen an, welche Pop-Stars während der letzten Jahrzehnte in ihrer Selbstinszenierungen den dominanten Geschlechterrollen und Rollenbildern die scheinbar scharfen Konturen ausgerissen haben.

Für mich ist Ziggy Stardust die herausragende und einsame Größe in diesem Ensemble androgyner oder auch transgender orientierter Figuren des Pop-Business. In den ersten 1970er-Jahren ist dabei der Kontrast so viel härter gewesen als heute, weil wir damals im Alltag nicht einmal annähernd solche Präsenz von Pop- und Porno-Figuren hatten.

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David Bowie (Photo by Adam Bielawski, Creative Commons)

Die Konvergenzen von Pop und Porno wären für sich ein ergiebiges Thema. Überdies reichen von den arrivierten Größen zwischen Glam und Glitter kaum welche in den Texten und Klängen an Bowie heran. Er und seine Kunstfiguren ist mein überragender Held in diesen Zusammenhängen.

In meinem Eintrag vom 12. Mai 2014 habe ich die Kunstfigur Conchita Wurst als ein Exponat der Popkultur betont, wobei ich Andy Warhol als herausragende Referenzgröße sehe. Der Popismus ist eine kulturelle Strömung, in welcher Warhol die Kluft der Codes zwischen Eliten und Pöbel nicht überbrückt, sondern weggewischt hat.

Ich denke, es ist noch gar nicht ausreichend klar geworden, was das bedeutet und was es an uns bewirkt hat. Siehe dazu auch den Eintrag vom 17. Mai 2014: „...Weil ich annehme, daß die Popkultur in aktueller Fassung, stets BEIDES in sich integriert: Das Phänomen und die Kritik daran, den Zustand und seine Persiflage.“

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Conchita, popistisch (Quelle: NEWS)

Inzwischen illustrierte Alexander Wallner, Art Director des Magazins NEWS, diese Gedanken. Er ließ die NEWS-Ausgabe des Heftes vom 15. Mai 2014 mit vier verschiedenen (!) Covers -- „jede davon im Stil des legendären Pop-Artisten Andy Warhol“ – drucken, wozu Chefredakteur Wolfgang Ainetter im Editorial auf Seite 2 anmerkt: „...ideal für Sammler“.

Es ist verblüffend, wie hier ein Repräsentant der Entertainment-Branche (Infotainment) sein Produkt in den Kunstkontext reklamiert und dabei nicht vergißt, auch einen ökonomischen Aspekt („ideal für Sammler“) zu promoten. Andy Warhol würde -- wäre er noch unter uns -- sich angesichts dieser Effekte vielleicht vor Vergnügen auf die Schenkel klopfen.

Ich hab in den vorigen Einträgen die Silhouette des weiblichen Körpers als „Manövriermaterie“ erwähnt. „Frauen von Stand“ waren einem Dress Code ausgesetzt, der dominante ästhetischen Konzepte darstellte. Die Befreiung vom Korsett, vom gesundheitsgefährdenden Einschnüren, hat viele Jahrzehnte gedauert.

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Der Avantgarde-Keil Ro 80 in Graz

Ab den 1930er-Jahren finde ich Parallelen zwischen der modisch bevorzugten Körperlinie von Frauen und von Automobilen. Dabei war offenbar die Stromlinie sehr anregend. Das Aufkommen der Stromlinie als visueller Code hat verschiedene Quellen. Ihre technischen Wurzeln sind stark von Aerodynamiker Paul Jaray geprägt. Das habe ich hier skizziert: [link]

Als ich an Twiggy dachte, die eine extreme Gegenposition zu den fülligen, großbusigen Leinwandheldinnen der 1950er-Jahre ergab, fiel mir auf Anhieb ein Lotus Esprit ein, den ich einmal in Gleisdorf fotografiert hatte. Radikale Keilform, wie sie auch Bertones Fiat X1/9 zeigt.

Ich wußte aber nicht genau, welches Design als Initialereignis der Keilform gilt. Die Bücher verraten es. Der NSU Ro 80 war nicht nur technische Avantgarde durch seinen Kreiskolbenmotor, seine Keilform nach Claus Luthe ist wegweisend gewesen.

Der Lotus Esprit kam erst 1976 auf den Markt, der Fiat 1972. Luthes Ro 80-Design konnte man ab 1967 auf den Straßen sehen. Und Twiggy? Lesley Hornby war 1949 zur Welt gekommen. Als Schauspielerin war sie ab 1971 etwa in Filmen von Ken Russel präsent. Als Sängerin beginnt ihre Diskographie 1976.

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Der Keilvon Giugiaro: Lotus Esprit

Die Model-Karriere von Twiggy begann 1965 und schien sie ab 1966 zunehmend einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Das sind jetzt natürlich Verkürzungen in der Darstellung. Aber es sind einige bemerkenswerte Markierungen darin zu finden.

Und die Bäuchlein-Pose der Demoiselle, von der ich eingangs erzählt habe? Immerhin war dieses Posieren in völligem Unverständnis der Zusammenhänge ein wesentlicher Auslöser für die hier wachsende Erörterung.

Da wäre es viel zu kurz gegriffen, die schwangere Demi Moore auf dem Vogue-Cover zu strapazieren. Diese Bäuchlein-Posen haben eine radikalere Vorgeschichte…

-- [The Track: Pop] --

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