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# 004
[18•2000]

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Nach den Ideologien:
Deutschland und Europa

Von Dzevad Karahasan

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Der Herbst 1989 war für mich von Deutschland erfüllt: ich arbeitete am Vorwort zur Sarajevoer Ausgabe von Kleists Prosa, las und analysierte noch einmal systematisch einen meiner Lieblingsautoren, lernte zwei ausgesprochen nette Menschen aus dem Teil Berlins kennen, der gerade aufhörte, Osten zu sein, verbrachte mit ihnen viele schöne Stunden, sprach über die Herausgabe meiner Bücher in deutscher Sprache, beobachtete mit viel Hoffnung und gelegentlichen Anfällen von Euphorie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ... Deutschland im weitesten Sinne also erfüllte meine Gespräche mit Menschen und die kostbaren Stunden der Lektüre, ringsum sammelten sich viele professionelle und menschliche Fragen, "deutsche Themen" beherrschten meine einsamen und meine geselligen Stunden, banden während einiger Monate einen gut Teil Gedanken und Gefühle.

Ziemlich viel Zeit beanspruchte damals die leidenschaftliche Polemik mit einem Freund, der die allgemeine Freude über die deutsche Wiedervereinigung nicht teilte, sondern sie, wie die anderen damals aktuellen politischen Prozesse im Osten mit großer Besorgnis verfolgte. In jedem Gespräch betonte er mehrmals, er sehe die Dinge als Ingenieur, also unter rein technischen Gesichtspunkten, ohne Gefühle und Visionen, ohne Hoffnung und Enttäuschung, er sehe sie nicht anders als das Projekt eines seiner Studenten oder als ein Bauwerk, an dessen Beispiel er seinen Studenten die Statik erläutern sollte (mein Freund arbeitete als Professor an der Fakultät für Bauwesen). Als Ingenieur sah er viele Gründe zur Sorge im Zerfall des Ostblocks, das heißt in allem, was mit diesem Zerfall zusammenhing, auch in der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich erinnere mich nicht an alle seine Argumente, viele verstand ich gar nicht und konnte sie deshalb nicht im Kopf behalten, aber an eines entsinne ich mich sehr genau, weil es den esoterischen Systemen meiner philosophischen Lehrer viel eher glich als dem technischen Verstand meines Freundes.

"Eine auf Gleichgewicht gegründete Konstruktion ist viel stabiler als eine mechanisch monolithische", behauptete mein Freund, "und am besten und stabilsten ist ein auf Spannung gegründetes Gleichgewicht". Es folgte ein langer politischer Vortrag, wenn ich mich recht erinnere, in dem Sinne, daß das politische Gebäude der Welt mindestens zwei Zentren haben müsse, zwei Wertsysteme, zwei "Flügel" - andernfalls sei die Stabilität des Gebäudes in Frage gestellt. Die beiden "Flügel" müssen nicht unbedingt als Gegner im "Gleichgewicht des Schreckens" stehen, wie es im kalten Krieg hieß, doch sie müssen in einem Verhältnis der Spannung als eine Art Alternative zu einander stehen. So unglücklich und ungeschickt es in der Praxis auch aussah, immerhin besaß das politische Weltengebäude Möglichkeiten, sagte mein Freund: im Osten hatten wir den Staat als Konstruktion und Ausdruck eines ideologischen Systems und im Westen als Alternative hatten wir den Staat als Unternehmen beziehungsweise als Service, der Dienst seiner Aktionäre steht. Wenn nur eine Staatsform bleibt, wenn wir die Alternativen verlieren, muß die Stabilität der Welt aus rein technischen Gründen ins Wanken geraten. Der Service-Staat bleibt nun ohne Gegengewicht. Die Konstruktion des ideologischen Staats bleibt leer (es wäre naiv anzunehmen, daß diese Konstruktion automatisch zu einer finanzkräftigen Aktiengesellschaft wird), und das bedeutet notwendigerweise die Destabilisierung des politischen Weltgebäudes.

Mit diesen ausgesprochen technischen Argumenten erklärte mein Freund seine Besorgnis über die Wiedervereinigung Deutschlands - Deutschland war nach seinen Worten einfach zu groß, und diese Überdimensionierung ist besonders offenbar und problematisch im Hinblick auf die geographische Lage - befindet es sich doch im Zentrum einer Art asiatischen Halbinsel. Noch klingt mir seine Formulierung in den Ohren: "Deutschland ist für sich selbst zu groß, und erst recht für Europa. Die gigantischen Entfaltungsmöglichkeiten Deutschlands auf allen Gebieten, in der Wirtschaft und Kultur, in Demographie und Fußball, Hydographie und Bodenschätzen sind so unaufhaltsam, daß seine Nachbarn aufhören werden, Partner zu sein. Und ohne Partnerschaft keine Spannung und keine Stabilität."

...



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Siehe auch Klaus Zeyringer:
"Zugang zu Welten" (Der Roman Sara und Serafina von Dzevad Karahasan)



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