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# 016
[24•2000]

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Zugang zu Welten
(Der Roman Sara und Serafina von Dzevad Karahasan)

Von Klaus Zeyringer

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"Kunst, Literatur bietet den Zugang zu Welten und Tiefenschichten, die sich prinzipiell in einer Rezeptions- und Reflexionskette als unendlich erweisen können" – diesen Satz nennen Internet-Reaktionen "schwampfig", "Feuilleton-Dummlall"
Welten (also Welt-Anschauungen aus exemplarischen Perspektiven) und Tiefenschichten (also hintergründige Zusammenhänge) können zum Beispiel aus dem jüngsten Roman von Dzevad Karahasan erstehen, im Lesen und Nach-Denken und Besprechen, in einem Weiter-Reden über diesen Roman und seine Bedeutungen und seine Hintergründe, also in einer Kette der Rezeption und der Reflexion, die immer weiter geführt werden könnte, etwa über: Kriege in Zeiten einer vorgeblichen Globalisierung; die Mächtigen und die Zielscheiben; Liebe und "Ausgeliefertsein"; Reden und Schweigen; Weggehen und Bleiben; Denkmäler und Kulturen; Erzählung und Erinnerung...

Exemplarisch verfährt der großartige Roman Sara und Serafina (Rowohlt Berlin 2000) von Dzevad Karahasan, der als der bedeutendste zeitgenössische Autor Bosniens gilt. Er illustriert menschliche Grund-Lagen und Grundfragen, indem er die Extremsituation des Krieges als – entsetzliches – Experiment denken läßt und zugleich seine Erzählung wie eine Versuchsanordnung durchführt.

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"Die Menschen verbringen ihr Leben auf Erden im Schatten von Denkmälern", lautet der erste Satz, damit bei einer Macht-Figur ansetzend, die Eigen- und Fremd-Bilder zu fixieren vermag. Die österreichische Schule nach 1945 (der "Nachkriegszeit") etwa gab dem Monument des Prinzen Eugen eine nicht unbedeutende Rolle; und in oft wiederkehrenden Träumen sah ich mich lange Zeit eine steirische Burg gegen "die Türken" verteidigen, letztlich allein, fast schon überwältigt – dann doch noch durch einen geheimen Tunnel flüchtend. Die vorgeblich bösen "Anderen" freilich, das erfuhr ich aus Karahasans Schriften über das bosnische Kulturmodell, konnten auch wesentlich toleranter und offener sein als seinerzeit die hiesigen christlichen Herrschaften... Sag mir, welche Denkmäler du hast, und ich sage dir, wer du bist. Ein Kollektiv, scheint es, paßt auf kein Monument; auf den Denkmälern, in deren Schatten wir leben, sitzen die Einzelnen, über uns hinwegblickend, ein versteinerter oder bronzener Kanon der Gschichts- und Geistesmächtigen (die zuweilen, vom Körper getrennt, nur als Kopf auf dem Sockel stehen), Namen als Signale: die Sieger, Herrscher, Bezwinger, Gesetz-Geber, die Hohen Priester und Welt-Definierer.
Eine bronzene (metallene) Perspektive von oben bestimmt auch diesen Krieg um Sarajevo, im Lokalen (die Scharfschützen auf den Hügeln, die Artillerie) und im "Großen": "Irgendjemand führt ein Experiment mit uns durch, Professor", sagt der Polizist Dervo, soeben von der Front zurückgekehrt, zu dem als "Arbeitsbericht"-Erstatter eben namenlos bleibenden Ich-Erzähler in Sara und Sarafina. "Jemand, der unheimlich mächtig ist, führt irgendein Experiment am lebendigen Leibe und mit unserem beschissenen Leben durch. Da bin ich mir hundertprozentig sicher, Professor, das ist es, nichts anderes." Mit einer entsprechenden Metapher schildert der Professor Sara – die im Winter 1993 auf eine Polizeiwache in Sarajevo gebracht wird, weil sie sich auf einer Straßenkreuzung den Scharfschützen dargeboten – bei dem Essen, das sie zum Abschied ihrer geliebten Tochter Antonija gegeben hatte: "Jemand, der fern und gleichgültig und mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, dirigierte Saras seelenlosen Körper, wenn er Zeit fand, an sie zu denken." Es sei klar, wiederholt Dervo später das Kleist-Bild vom Marionettentheater, "dass irgendjemand ein Experiment mit uns durchführt, er versetzt uns probeweise in verschiedene Umstände und beobachtet, wie wir uns in den einzelnen Phasen verhalten." Diese Behauptung erinnert den Professor an ein Gespräch, das er zehn Jahre zuvor im Café des Wiener Hotel "Europa" (Karahasan nennt in anderen Texten Sarajevo "Hotel Europa"!) geführt hat, in dem eben der erste Satz des Romans gefallen ist. "Schon wieder Bronzefiguren?", stellt der Professor die Verbindung her, und der Polizist antwortet: "Ich weiß nicht, was für Figuren, aber dass sie groß sind und uns verarschen, das weiß ich genau."
...



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Siehe auch Dzevad Karahasan:
"Nach den Ideologien: Deutschland und Europa"
Portrait: Dzevad Karahasan



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