log #289: balkan buro

Bisher hab ich vorzugsweise den Begriff "Jugoslawischer Sezessionskrieg" verwendet. Aber das erscheint mir inzwischen unhaltbar. Zu unterschiedlich sind die verschiedenen Prozesse, Schwerpunkte und Positionen; auch wenn sie in einem ganzen Bündel gemeinsamer Ursachen wurzeln mögen.

Der Plural scheint angebracht: "Die jugoslawischen Kriege" dürfte treffender sein. Nein, ich will mir dabei keine Haarspalterei nachsagen lassen. Es ist tatsächlich so kompliziert. Davon bleibe ich vorerst überzeugt. Ich habe eben eine bewegende Reise nach Bosnien und Hercegovina absolviert. Der Abschluß dieser Reise ist kurios, symbolträchtig. Ich hatte noch Sand aus Bosnien in den Schuhen, als ich in der Grazer Stadthalle anlangte.

log289a.jpg (22887 Byte)

Eine Verabredung mit Karl Bauer hatte mich dort hingebracht. Er ist Tierarzt, hat mit lokalen Partnern im Kosovo einen Betrieb aufgebaut, interessiert sich also lebhaft für diese Region und denkt mit all seinen Erfahrungen sehr pragmatisch über einschlägige Zukunftsfragen nach. Wir sind uns einig: Diese Fragen betreffen nicht bloß Südosteuropa, sondern ganz Europa.

Bauer ist aber auch an kulturellen Fragen und speziell jenen der Kunst interessiert. Er war der wichtigste Motor, um vor einigen Jahren eine Ausstellungs-Serie mit den Arbeiten albanischer Kosovaren in Österreich zu realisieren: [link] Bauer ist ferner als Gemeinderat im Gleisdorfer Kulturausschuß tätig. Es verbindet uns demnach inhaltlich so allerhand.

log289b.jpg (19611 Byte)

Wir hatten uns den Besuch einer Veranstaltung in der Grazer Stadthalle vorgenommen, weil es da um Serbien ging und weil der Hauptvortrag vom gegenwärtigen Präsidenten des Landes, Boris Tadic, gehalten wurde. (Überraschend, daß ich so nah an den Präsidenten heran konnte, ohne daß bewaffnetes Personal sich mit mir beschäftigte.)

log289c.jpg (25933 Byte)

Unmittelbar davor war ich in Prijedor, Omarska und Kozarac (Foto) gewesen, bosnische Orte, wo heute noch niemand genau weiß, wie viele Menschen fehlen, nachdem eine serbische Soldateska dort gewütet und in Lagern gemordet hat: [link]

Was waren das für Kräftespiele, unter denen Jugoslawien zerbrochen ist? Und warum geht uns das alle etwas an? Wie ist unser Leben und Wohlergehen womöglich damit verknüpft, ob es gelingt, diese Region von innen und von außen zu stabilisieren? Ist da außerdem einiges an gesamteuropäischer Verantwortung abzuarbeiten, damit diese multiethnischen Postkriegs-Gesellschaften auf dem West-Balkan wieder in einen verläßlichen und auch belastbaren Frieden findet?

Es gibt eine Flut an Literatur zum Thema, manchen Schund darunter, auch etliche Wichtigtuerei westlicher Publizistik. Und es gibt natürlich einige herausragende Bücher, von denen ich zwei hier vorstellen möchte.

Das eine ist die unaufgeregt verfaßte, mit vielen Fakten unterlegte Deutung der Geschehnisse, wodurch es einem in der Lektüre sehr gut gelingt, die beunruhigende Komplexität der Kriegsgeschichte vor Augen zu bekommen, ohne daß einem dabei die Orientierung verloren ginge.

Marie-Janine Calic schafft mit "Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina" eine sehr effiziente Hilfe, sich auf diese Komplexität einzulassen und die Grundlagen dieses kniffligen Vexierspiels an Prozessen zu begreifen.

log289d.jpg (14968 Byte)

Calic bietet so ein kleines Fundament an Kenntnissen, die ein provokant pointiertes Statement jenes Autors plausibel erscheinen lassen, dessen Buch ich hier an zweiter Stelle hervorheben möchte. Norbert Mappes-Niediek notierte in "Die Ethno-Falle" (Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann) folgendes [Quelle]:

log221b.jpg (21696 Byte)

Die Lektüre macht einem deutlich, womit wir es da zu tun haben; auch generell die Grundlagen jenes Europas betreffend, das gerade um neue Klarheiten ringt, was es denn nun sein will, was es eher ein- und ausschließen möchte. Die simpel scheinende Frage "Was ist eine Nation?" will ja erst einmal in diesem und jenem Zusammenhang beantwortet sein, ohne daß jemand dabei ausufernd in's Stottern gerät.

Die jugoslawischen Kriege der 1990er-Jahre lassen sich auf jeden Fall nicht betrachten und bewerten, ohne dabei auch die Bedingungen und Fragen des ganzen (gegenwärtigen) Europa zu überprüfen.

Jugoslawien, das heute noch von vielen Leuten fälschlich für ein "Ostblock-Land" gehalten wird, hatte als blockfreies, sozialistisches Land eine große Bürde darin, eben zwischen den beiden Blöcken (des "Warschauer Paktes" und der "NATO") zu bestehen und dabei den Ostblock vom Adria-Raum möglichst fern zu halten.

Wie mag sich das zu einer vergleichbaren Aufgabenstellung des neutralen Österreich verhalten? Und wieso deuten wir so gerne ein strukturelles wie ökonomisches Nord-Südgefälle als die Eigenart angeblich "blutrünstiger" und "fauler" "Südländer"?

log289e.jpg (25408 Byte)

Europa, das ist eben auch eine Geschichte der Klischees und Stereotypen über seine Völker. Das hat dann mitunter grundverschiedene Konsequenzen, je nachdem, ob ein Land eher reich oder doch wesentlich ärmer ist.

Calic und Mappes-Niediek verhelfen beide zu einem kühleren Blick, der hinter manche Kulissen geführt wird. Wer sich Zeit für die Lektüre dieser Bücher nimmt, wird sehr wahrscheinlich einige vertraute Annahmen zum Untergang Jugoslawiens überdenken müssen.

Siehe dazu auch: Balkan heute Von Karl Kaser ("next code: exit")

[balkan buro]


coreresethome
22•10