4. April 2024

Leitkultur?

Ich hab mir nun etliche Tage Zeit gelassen, um das Thema aufzugreifen. Ich wundere mich längst keinen Moment über politisches Personal, das sich dem Thema Kultur widmet und dabei mit Verve in den Graben fährt. Das kommt öfter vor.

Nun war ich vor allem einmal neugierig, wie in meinem Metier darauf reagiert wird. Eigentlich ist diese Fehlleistung der Bundes-ÖVP ein Geschenk. So erfahren wir, wo das Kunstvölkchen inhaltlich steht. (Keine Antwort ist auch eine Antwort!)

Ich mußte in diesem Logbuch erst nachschlagen, wann die FPÖ das Thema Leitkultur durchgenudelt hat. (Wenn Freiheitliche sich dem Thema Kultur widmen, ist man besser sehr wachsam.)



Man kann vor den großen Themen der Gwegnwart auch nach hinten auskneifen.

Im November 2005 wußte Fechtmeister Hace Strache einen „echten Wiener“ als jemanden hervorzuheben, „der die Leitkultur, die es bei uns gibt, zum Ausdruck bringt“: siehe dazu die Notiz!

Anno 2008 war die FPÖ anläßlich einer Nationalratswahl mit diesem Sujet immer noch beschäftigt. Zitat: „Österreich den Österreichern, indem wir unsere Werte, Leitkultur und Tradition vor schleichender Islamisierung retten.“ Siehe die Notiz

Ich fand es damals amüsant, daß man für diesen Propaganda-Feldzug das Kulturkonzept eines arabischen Aristokraten vor sich her trug; wenigstens per Schlagwort. Hätte man die eigene kulturpolitisch Kompetenz ärmlicher und erbärmlicher demonstrieren können?

Im Jahr 1998 war bei Bertelsmann erstmals „Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft.“ von Bassam Tibi erschienen. Meine „aktualisierte Taschenbuchausgabe“ von 2002 hat einen geänderten Untertitel: „Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit?“.



Wenn man Kultur und Zivilisation verwechselt...

Ich halte diese Entweder-Oder für sehr polemisch und irreführend. Es klingt nämlich, als könnte Europa nur zwischen diesen zwei Optionen wählen, was ich für Unfug halte. Tibi hatte 1995 schon Flagge gezeigt. Das Buch hieß: „Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus.“

Mit diesem Thema machte 1996 Samuel P. Huntington weltweit Furore. Sein Buch trug den Titel: „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order.“ (Sie werden kaum überrascht sei, daß mir die Konzepte der beiden Männer nicht zusagen.)

Als Huntingtons Buch 1998 in deutscher Sprache erschien, hieß es plötzlich: „Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert.“ Sehen Sie das Problem? Da wird der Begriff Kultur völlig korrumpiert, denn was „die Kultur“ sei und wie sie begrifflich von „die Zivilisation“ unterscheidbar wäre, wurde in meinem Milieu bis heute nicht debattiert.



Wenn die Begriffe nichts taugen, ist die Botschaft nutzlos.

Ich halte in diesem Zusammenhang auch den Begriff „multikulti“ für Mumpitz. Wie das kommt? Ich bin Österreicher und ich bin Europäer. Mein Europa ist nicht „multikulturell“ sondern multiethnisch. Und das schon sehr lange. Wir haben eine Kultur, in der es viele Ethnien gibt, die für regionale und manchmal sogar lokale Varianten innerhalb der Kultur sorgen.

Das ist die Grundsituation in mindestens einem rund halben Jahrtausend habsburgischer Herrschaft. (Sowas sollte gerade den Leitkultur-ÖVPlern eigentlich geläufig sein!) Ich rufe Kaiser Karl V. als meinen Zeugen auf, dem von Zeitgenossen attestiert wurde, er herrsche über ein Reich, „in dem die Sonne nie untergeht“. (Für die alten Monarchen war das Multiethnische Normalität.)

Selbst 1914, als Franz Josef I. daran ging, das Haus Habsburg zu versenken, war Österreich noch ein multiethnisches Imperium. Heute ist es ein multiethnischer Nationalstaat, dessen Kultur erstens von der Landesgeschichte und zweitens von den ansässigen Ethnien geprägt ist. Das überdies in einer umfassend globalisierten Welt. In solchen Verhältnissen einem Zwergstaat seine eigene und genuin „österreichische Kultur“ andichten zu wollen, ist eine ziemlich drollige Vorstellung.

+) Kulturpolitik


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