22. März 2023

Body Count und Mythenkram

Die !Kung sind eines der San-Völker in der Kalahari. Die eigentümliche Schreibweise ergibt sich, weil deren Sprache zum Teil Klicklaute hat. Ich fand drei !Kung-Völker notiert, von denen etwa die ǃKung-Ekoka etwas mehr als 9.000 Menschen sind und ihre Eigenbezeichnungen so notiert werden: ǃKung, ǃKu~, ǃXu~, ǃHu~, Qxu, Qxû, ǃXun, ǃKhung.

Ihre Dialektgruppen sind unter den Kxʼa-Khoisansprachen zusammengefaßt. Ich kann an solchen Details einfach nicht vorbei, ohne mich wenigstens kurz damit aufzuhalten. Sowas hilft mir immer wieder, mich daran zu erinnern, daß meine Weltsicht, mein Menschenbild, meine Sprache nur Mosaiksteinchen in einem riesigen Gesamtgefüge sind.



Marcus Kaiser: „opernfraktal/minimalzelle“

Dieses unglaubliche Panorama der Lautbildung. Sie finden mit Stichworten wie Xhosa Traditional Click Noise Language oder Zulu click language mühelos Videoclips. Ich bin dieser Tage darauf gekommen, weil Historiker Rutger Bregmann einen !Kung folgendermaßen zitiert hat: „Wir brauchen nichts von jemandem, der prahlt, denn eines Tages wird ein Stolz jemanden das Leben kosten.“

Wer nun annimmt, das sei eben eine Sache der Jäger und Sammler, aber bei uns nicht von Belang, hat vermutlich einen guten Teil des eigenen Lebens verschnarcht. Ich würde das beim Kunstvölkchen fast schon als Faustregel nützen. Die mit den großen Gesten, den markanten Posen, gelegentlich auch mit etwas überzogener Lautstärke, kann man meist übergehen. In vielen Fällen hab ich auf die Art Spießer kostümiert gesehen, deren Werk über den Rang von Bastelarbeiten und „kreativem Gestalten“ kaum hinauskommt.

Konzentrierte Menschen, die in der Kunst das suchen, was Lüpertz als „Qualität und Vollendung“ zusammenfaßt, finden in all den Fällen, die ich näher kennengelernt habe, keinerlei Nutzen im Posieren. Sie sind mit der Konzentration auf ihre Arbeit ausgelastet.

Von einem dieser Liga bekam ich grade Post. Wir sind im „Neudau-Projekt“ verbunden. Ich hatte bei Marcus Kaiser nachgefragt, ob ich eines seiner Modelle als repräsentatives Motiv für den weiteren Projektverlauf einsetzen dürfe. „Kannst Du gerne verwenden.“

Das „opernfraktal/minimalzelle“ wird als Open Source Architektur ein bewohnbares Werk sein, ein skulpturenhafter Raum, der unter andrem mit Präsenz verknüpft wird: „Versuch am Ort zu sein“. Als gestern Kaisers Konzept ankam, meinte ich: „Wie sehr ich es mag, wenn etwas meine Auffassungsgabe übersteigt. Aber dann muß ich natürlich wieder ins Vertraute zurück.“ (Das ist genau der Bogen, den ich im Neudau-Projekt nehmen will.)

Im Augenblick beschäftigt mich aber der 8. Mai, als bei uns anno 1945 der Faschismus endlich militärische geschlagen wurde. Das bereite ich jetzt für den Zeit.Raum vor: „Episode XXVI: Mai acht, Bruchstelle“. Auch dafür ist mir übrigens die Bregmann-Lektüre überaus nützlich. In „Im Grunde gut“ geht er unter anderem dieser speziellen Frage nach: Sind wir eigentlich „Killer Apes“? Oder ist das eher eine kulturell bedingte Anomalie, wo man über die gesamte Spezies nachdenkt?

Ich hab hier im Logbuch schön öfter die neolithischen Massaker erwähnt und wie im Zuge der menschlichen Seßhaftwerdung neue Formen der Gewalttätigkeit aufkamen, für die es keine älteren Belege gibt. Oder die erste große Schlacht auf europäischem Boden, von der wir wissen, die rätselhaften Kriegshandlungen im Tollensetal. (Siehe dazu etwa den Eintrag vom 22. Jänner 2018 oder den „Der Sarajevo-Kontext“!)


Allerdings werden wir – seit ich denken kann – in eine Propaganda eingesponnen, die uns den „soldatischen Mann“ und Haudegen als Ideal vorgaukelt, diese Operetten-Helden eine Feuerkraft andichtet, die irreal ist.

Für gewöhnlich schießen Soldaten gar nicht so gerne. Dafür gibt es kuriose Belege, auf die ich noch eingehen werde. Das hat sich erst durch jüngere Formen von Drill und Spezialausbildungen in Teilbereichen geändert. Doch die hohen Todeszahlen, wie wir sie heute kennen, sind überhaupt erst durch eine umfassende Mechanisierung des Krieges und sehr effiziente Fernwaffen möglich geworden.

Bregmann faßt unzählige forensische Untersuchungen von Skeletten zusammen und kommt für die gesamten zehntausend Jahre auf einen erstaunlichen Body Count. In Prozenten (nach Waffenart unterschieden) nennt er unter Sonstiges: 1%, Chemie: 2%, Explosionen und Druckwellen: 2%, Landminen und Sprengfallen: 10%, Kugeln und Panzerabwehrmunition: 10% und schließlich Mörser, Granaten, Luftbomben und Splitter zusammen: 75%.

+) Zeit.Raum, Episode XXVI: Mai acht, Bruchstelle
+) Neudau (Das Projekt, Phase II)