11. November 2020
Morrison
Ich hab im gestrigen Eintrag meine Annahme notiert, man
könne zwar allein gefangen sein, aber nicht allein frei
sein. Ich hänge an dieser Überlegung sehr. Spontan gefragt,
wie ich darauf komme, wäre meine Antwort: annähernd 60 Jahre
Lektüre. All die Romane, Anthologien, Lyrikbände und Essays
haben mich vermutlich zu dieser Auffassung gebracht.
Dazu kommt eine Reihe von
Begegnungen mit Menschen, die bewaffnet auf Schlachtfeldern
waren, die unbewaffnet vor dieser oder jener Soldateska
geflohen sind, Begegnungen mit manchen, die Tötungslager
überlebt haben oder ihnen vorab gerade noch entkommen
konnten.
Wenn ich in Schwierigkeiten stecke, die ich
nicht umgehend abwenden kann, hilft es mir, Referenzpunkte
zu finden. Relationen! Ich habe Bücher gelesen und Menschen
getroffen, die von Bedrohungen wissen, denen gleichen die
derzeitigen Gefahren in unserem Lebensraum nicht. Das sind
auch Zusammenhänge, die mich in letzter Zeit öfter auf Toni
Morrison brachten.
Noch einmal: man kann zwar allein
gefangen, aber nicht allein frei sein. Freiheit, die man nur
sich selbst gegenüber einlöst, ist für mich kein
interessantes Thema. Freiheit in menschlicher Gemeinschaft
hat ein Bett aus Beziehungen, Relationen. Das beschäftigt
mich.
Ich hab seit dem ersten heurigen Lockdown eine
Art laufendes Gespräch mit Musiker Oliver Mally. Wir sind
heute an einem Punkt angelangt, da will akzeptiert werden,
daß sich auch in unserem vertrauten Milieu diverse Lager
gebildet haben, aus denen Ansichten laut werden, die
gelegentlich kollidieren, die einander widersprechen.
Es gibt zum Glück keinen Grund, darüber Deckmäntel oder einen
Mantel des Schweigens zu breiten. Dissens ist ein interessanter
Zustand in unseren Beziehungen. Wir widersprechen einander.
Mitte März 2020 hab ich das Dylan-Album von Mally erwähnt und
aus der laufenden Berichterstattung diesen Satz zitiert:
„Die Beschränkungen im öffentlichen Raum werden von der Polizei
kontrolliert.“
Ab da machten wir alle neue
Erfahrungen. Anfang Mai hab ich mich dann über diesen flach
gedachten Satz mokiert: „Ohne Kunst wird’s still!“ Eine
Reflexion jenes schlampig rausgehauenen Slogans ist mir bis
heute nicht untergekommen.
Dabei kam ich dann mit Mally
auf ein Morrison-Zitat: „This is precisely the time when
artists go to work - not when everything is fine, but in times
of dread. That’s our job!”(Siehe den
Eintrag vom 7. Mai
2020!)
Morrison hatte den Text „No Place for
Self-Pity, No Room for Fear“ 2015 publiziert. Mally und ich
waren mit ihr einig: „In times of dread, artists must never
choose to remain silent.“ Wir haben in diesem Jahr zusehen
können, wie uns die Früchte unsere Arbeit vor den Augen
verschwinden oder in den Händen zerrinnen.
Wir sind gegen
Barrieren gerannt, haben Enttäuschungen angehäuft und während
andere in die Welt hinausbrüllten, daß das alles eine
inszenierte Sache sei, um Völker an die Kette zu legen, waren
wir darauf konzentriert, anfallende Ängste zu verdauen, zu
verstauen, arbeitsfähig und tätig zu bleiben.
Wir
schienen uns einig: wer jetzt ratlos bleibt und untätig wird, in
Agonie fällt, geht unter. „This is precisely the time when
artists go to work.“ Diese Feststellung kommt aus keiner
bequemen Position. Wir sind alle flüchtig in die Welt geworfen
und ein Leben kann mit einem Hauch verlöschen.
Morrison
hat ihr wohl berührendstes Buch - „Beloved“ - mit folgender
Passage beendet: „By and by all trace is gone, and what is
forgotten is not only the footprints but the water too and what
it is down there. The rest is weather. Not the breath of the
disremembered and unaccounted for, but wind in the eaves, or
spring ice thawing too quickly. Just weather. Certainly no
clamor for a kiss. Beloved.“
|
-- [Kontext Covid-19] --
[Kalender] [Reset] |