25. April 2019 Wo liegt
Patagonien? Darauf komme ich noch. Ich hab im vorigen
Eintrag erwähnt, daß ich Edith Hemmrich und Mark Blaschitz vom SPLITTERWERK
zum Kaffe erwarte, denn wir haben in losen Abständen offene Fragen zu erörtern. Fragen
des Lebens und der Kunst.
Die waren übrigens auch letzte Nacht durchzunehmen.
Diesmal unter der Schirmherrschaft von Grünem Veltliner, in meinem Fall dem
SPLITTERWERK'SCHEN. So verzahnen sich gelegentlich Gedankengänge und Emotionen. Das
ereignet sich ganz gemäß meiner Lieblingsannahme: Wir denken in Worten, Bildern und
Emotionen. Es bedeutet, wir denken auch mit dem Körper; nicht metaphorisch, sondern im
wörtlichen Sinn. Noch deutlicher: Das Fleisch wirkt ganz energisch an unserer kognitiven
Arbeit mit.
Daher bin ich überzeugt, wer ernsthaft meint, manche
würden nur mit dem Kopf denken und andere mit dem Bauch, liegt völlig daneben, bedient
mit dieser Sichtweise jenes trennende Geschäft, das schon eine Ewigkeit und drei Tage
viel Unheil anrichtet.
Aber das will ich jetzt gar nicht weiter vertiefen, obwohl
hier thematisch ein sehr interessanter Nebenschauplatz liegt. Nämlich das Thema Schmerz.
Vor allem jene Asymmetrie, die mir im Zusammenhang mit den Aspekten von Schmerz
und Schrecken immer noch Kopfzerbrechen bereitet. Im Eintrag
vom 7. April liegt der Querverweis auf den kleinen Text, in dem ich notiert habe: "Der
Tod bleibt ein Rätsel, das uns gewiß ist. Der Schmerz ist ein verstörendes
Mysterium." Das führt nun wiederum zum Stichwort Patagonien. Da geht
es um die Kunst. Es geht um das Leben.
Es geht um Tiefe und all die möglichen Erschütterungen.
Dazu passend, letzte Nacht hab ich ein kleines Tondokument aus dem Jahr 2012 ausgegraben.
Es stammt von einer LEADER Kultur-Debatte und handelt vom Versuch, hier in der
Region deutlich zu machen, daß es nicht Aufgabe und Funktion der Kunst sei, für andere
gesellschaftliche Felder dienstbar gemacht zu werden; quasi als eine Art "höhere
Sozialarbeit"; höher im Sinn von transzendenter: "Meine Einwände
werden immer massiver!"
Nebenbei bemerkt: Diese Themen, kulturpolitische Debatten,
sind hier inzwischen aus den öffentlichen Diskursen gelöscht, kommen praktisch nicht
mehr vor. Ich hab vorhin erwähnt: Da geht es um die Kunst. Es geht um das Leben.
Das kann man alles in Betulichkeit packen und übliche Kalenderblätter mit üblichen
Kalendersprüchen als Packzettel draufkleben. Ein Kulturbetrieb, der sich selbst nicht
mehr in Frage stellt, fügt sich in das derzeit gängige Hintergrundrauschen wovon auch
immer. Schwamm drüber!
Aber Patagonien. Wir hatten das GEO-Heft zum Thema
Steinzeit auf dem Tisch. Da ist unter anderem vom Göbekli Tepe die Rede, also
vom bedeutendsten Beleg dessen, was mir Blaschitz klar gemacht hatte: Die Baukunst wurzelt
nicht in der Wohnraumbeschaffung, sondern im Kultischen. Autor Dirk Hempel: "Um
diese logistischen Höchstleistungen zu vollbringen, mussten Hundertschaften an Arbeitern,
Künstlern und Konstrukteuren ernährt, gekleidet und ausgerüstet werden. Und sie mussten
sich länger an diesem Ort aufhalten, vielleicht sogar über viele Jahre. Wurden sie aus
diesem Grund sesshaft?" [Quelle]
.
Eine offenbar arbeitsteilig organisierte Großleistung mit
unglaublichem logistischem Aufwand, nicht als Beitrag zur Alltagsbwältigung, sondern als
Zuwendung zur Transzendenz. Natürlich könnte angenommen werden, sie hätten damals
überlegt: "Sollen wir auch die nächsten zehntausend Jahre nichts anderes tun,
als bloß hinter Bären, Ochsen und Mammuts herzurennen, zwischendurch Pilze, Beeren und
Kräuter futtern?" Es ist aber eher zu vermuten, daß es um Selbsterfahrung und
Selbstvergewisserung ging, um ein bewältigen offener Fragen und die eigenen Beziehungen
zu komplexeren Zusammenhängen.
Die Anlage von Göbekli Tepe ist rund 11.000 Jahre alt. Es
wird damals nicht anders als heute gewesen sein: Der Tod bleibt ein Rätsel, das uns
gewiß ist. Der Schmerz ist ein verstörendes Mysterium. Wir finden dazu entweder ein
tragfähige Beziehung, in der sich der mögliche Schrecken mildern kann, vielleicht sogar
annähernd verschwindet, oder wir bleiben diesen Kräften ganz hilflos ausgeliefert.
Und hier nun diese Höhlen von Patagonien, die
atemberaubenden Spuren von Händen. Ich hätte die Region auf Anhieb an der falschen
Stelle gesucht, Blaschitz verwies treffend auf Lateinamerika. Hier ein Ausschnitt aus den Cuevas
de las Manos südlich der Stadt Perito in Argentinien.
(Foto: Mariano, CC BY-SA 3.0) [GROSSE ANSICHT]
Die Arbeiten sind etwa 11.000 bis 15.000 Jahre alt, also
auch jener Ära zuzurechnen, in welcher die Tempelanlage erbaut wurde. Soll ich annehmen,
die Leute hätten an die Ewigkeit gedacht, als sie in jenen Höhlen zusammenkamen? Ich
stelle mir eher vor, daß es bei dieser Geschichte um Selbstwahrnehmung ging und
womöglich auch um eine damals neue Erfahrung von Gemeinschaft. Ich stelle mir vor, hier
liegen Wurzeln von Politik.
Das erlebbare Gemeinwesen, wie es neue Strukturen bekommt.
Die oben schon erwähnte Arbeitsteilung, wie sie der Tempelbau über Jahre mit sich
gebracht haben muß, wies den Weg zu einem Funktionärswesen, damals wohl: zur
Priesterschaft. Politik als gemeinsames Ereignis von Gemeinwesen und Staatskunst.
Nun wäre eventuell zu klären, was an all dem etwas Grundlegendes sei, vielleicht
zeitlos, und was den aktuellen Status quo ausmacht, wobei eben Politik und Kunst in einem
eigentümlichen Verhältnis zueinander stehen, das ich derzeit in der Kulturpolitik eher
nicht verstanden sehe.
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