23. April 2019 Wie zu
erwarten war, hat die Erregung um den Brand der Nortre-Dame nur wenige Tage angehalten und
die davon angetippten Fragen zur Kultur Europas scheinen wieder unter dem Tisch zu ruhen,
wo sie für Repräsentationszwecke jederzeit hervorgezerrt werden können.
Der Historiker Yuval Noah Harari hält Science
Fiction derzeit für die wichtigste Kunstform. In diesem Genre waren Douglas
Adams, Arthur C. Clarke, Philip K. Dick und Stanislaw Lem viele Jahre meine stärksten
Begleiter. Natürlich auch Ray Bradbury, dessen Fahrenheit 451" ich
kürzlich erneut aufgegriffen hab. Zwei Publizisten hatten mir in den letzten Tagen auf
die Sprünge geholfen, denn ich verliere Douglas Adams manchmal ein wenig aus den Augen. (Vielleicht,
weil er der Komödiant in diesem Fach ist.)
Wolf Lotter zitierte Jonas Vogt, der wiederum
Adams, genauer: dessen Buch Last Chance To See". Darin gibt es das
Kapitel Blind Panic". Douglas erwähnt eine Japan-Reise und den Besuch
des Kinkaku-ji, des Goldenen Pavillons einer Tempelanlage bei Kyoto. Der Autor
wunderte sich, how well it had weathered the passage of time since it was first
built in the fourteenth century".
Jener Pavillon wurde zuletzt im Sommer 1950 von einem Buddhisten niedergebrannt, 1955
komplett neu aufgebaut. Dabei verlor das Gebäude zwar sein Status als japanischer
Nationalschatz, doch Adams berichtet von einem anregenden Dialog, der das relativiert.
'So it isn't the original building? I had asked my Japanese guide.
'But yes, of course it is,' he insisted, rather surprised at my question.
'But it's been burnt down?
Yes.
'Twice.'
'Many times.'
'And rebuilt.'
'Of course. It is an important and historic building.'
'With completely new materials.'
'But of course. It was burnt down.'
'So how can it be the same building?'
'It is always the same building.'
Das Gespräch bietet einen markanten Hinweis auf den Unterschied zwischen einem Gegenstand
und seiner Bedeutung. Dieser kleine Dialog zeigt mir außerdem ein interessantes
Kulturverständnis, das nicht am Material von Artefakten hängenbleibt. In einem Eintrag vom 2. Mai 2006 habe ich
hier anläßlich eines Semmelknödels und der einschlägigen Gedanken Karl Valentins zu
diesem Thema auf ein Buch von Daisetz Teitaro Suzuki verwiesen, in dem er den "Traktat
vom goldenen Löwen" erläutert: "Wenn die wechselseitige Bedingtheit
von Gold und Löwe / Leere und Form / erkannt wird, bleibt keine falsche Vorstellung mehr
zurück."
Diese Frage, was an einem goldenen Löwen das Gold und was
der Löwe sei, habe ich später Edith Hemmrich und Mark Blaschitz vom SPLITTERWERK
vorgelegt. Das paßt gerade, weil ich sie heute Nachmittag zum Kaffee erwarte. Sie waren
mir voriges Jahr wesentliche Auslöser, den "Tesserakt" zu formieren;
siehe: Project Space SPLITTERWERK. Von Mark habe ich seinerzeit
den wesentlichen Hinweis erhalten, daß die Architektur als Baukunst (nicht als
Dienstleistung!) keineswegs in der Wohnraumbeschaffung wurzelt, sondern im Kultischen.
Das sei der Beginn der Architektur...
Es trifft sich kurios mit den Aktivitäten der GEO-Redaktion,
die eben ein Heft zum Thema herausbringt: "Karges Steppengras wächst an seinen
trockenen Hängen, von denen einst die Säulen der ersten Tempelanlage der Menschheit
emporragten: eines Monuments, das Nomaden vor 11.000 Jahren errichtet haben und das
von einer Zeitenwende kündete." [Quelle]
Das oben notierte Suzuki-Zitat geht mit folgenden Worten
weiter: "Wenn damit der Dualismus von Sein und Nichtsein beseitigt wird, gelangt
der Geist zur absoluten Ruhe und in einen Bereich, den Worte nicht ausdrücken
können." Ich denke, so kann man sich das Gebiet vorstellen, in dem die Kunst
wohnt.
Als ich kürzlich mit Franz und Inge Wolfmayr den Status
quo erörtert habe, betonte Franz, wie sehr wir alle in letzter Zeit übersehen und
unterschätzt hätten, was Dialektik sei.
In diesem Sinn Suzuki: "Wenn
man den Löwen sieht, sieht man ihn als einen Löwen und das Gold ist vergessen. Der Löwe
hat Bestand und das Gold gerät aus der Sicht. Aber wenn man das Gold sieht, sieht man nur
das Gold und keinen Löwen; jetzt hat das Gold Bestand, während der Löwe aus der Sicht
gerät. Aus einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, haben manchmal beide Bestand, manchmal
bleibt keines von beiden sichtbar." Da liegt also einige Arbeit vor uns...
-- [Tesserakt] -- |