7. April 2019

Ich habe in diesen Notizen nun mehrfach den Philosophen Daniel Dennett erwähnt. Seine Überlegungen darüber, wie wir aus unserem überkomplexen Neuronen-System ein Ich erhalten, haben mich wiederholt gefesselt. Dieses Ich versteht er als eine Benutzer-Simulation, was ja bedeutet, wir, soweit wir uns selbst wahrnehmen, haben damit nur einen Bruchteil dessen an der Hand, was tatsächlich in uns vorgeht.

log2618a.jpg (12835 Byte)

Durch Dennett bin ich wieder auf das Thema Nozizeptoren gestoßen. Neuronen empfinden keinen Schmerz. Wie macht es der Körper also, daß wir uns auf dieses wichtige Warnsystem verlassen können? Aber auch: Wozu kann der Körper das Schmerzerleben weit darüber hinaus treiben, wenn wir ohnehin schon gewarnt sind?

Ich ahne heute mehr denn je, daß die zweite Frage eher philosophischer Natur ist, in deren Fundament das unglaublich komplexe System auf ganz banale Art aus seiner Balance gekommen ist. Davon gibt es dann eben Versionen, die irreversibel sind. Das kommt so, wenn sich quasi die Kraft dieses Systems, ein erträgliches Fließgleichgewicht aufrecht zu erhalten, erschöpft hat.

Ohne Schmerzempfinden ist man extrem bedroht. Zugleich bleibt Betäubung ein großes Thema. Betäubung in vielfachem Sinn. Aisthesis und Anaisthesis. Ästhetik und Anästhesie. Wahrnehmung und Betäubung... Vereinfacht gesagt bilden Nozizeptoren die Basis des Schmerzempfindens auf physischer Ebene. Was davon in die Psyche hineinragt, erscheint mir wie ein Kontinent mit sehr verborgenen Terrains, die hinter dem nächsten Horizont liegen.

Ich war bei verschiedenen Menschen, die an Krebs starben, unterschiedlich nahe dran, auch auf Abstand und völlig distanzlos bei meinem Vater. Ich hab selbst bezüglich Schmerz und seiner Dimensionen einige radikale Erfahrungen gemacht. Daher hat mich über viele Jahre interessiert und beschäftigt, was daran sagbar ist, worüber man sich mit anderen austauschen kann, und was ins Unsagbare führt.

In einer kleinen Notiz zum Tod einer Frau, die an Krebs verstarb, habe ich gestern angemerkt: "Der Tod bleibt ein Rätsel, das uns gewiß ist. Der Schmerz ist ein verstörendes Mysterium." Siehe dazu: "Ein letzter Weg" (Regina ist gegangen). Das Vermessen dieser Zonen, um es metaphorisch auszudrücken, wird mich wohl weiterhin binden. Dabei ist für mich unter anderem interessant, wie sich mein Vorstellungen von diesen Dingen verändern.

log2618b.jpg (7556 Byte)

Ich war vor Jahren von Monika Specht-Tomann eingeladen worden, einen kleinen Beitrag für ein Buch zum Thema zu verfassen. ("Schmerz: wie können wir damit umgehen?") Es zeigt sich, daß es eine Neufassung dieses Buches bei einem Schweizer Verlag gibt, wovon die ersten 18 Seiten, auf denen auch mein Text vorkommt, als PDF im Web deponiert wurden: [link]

Die Trennlinie, von der ich damals geschrieben hab, scheint unauflöslich zu sein. In jener Einschätzung sehe ich mich nach all den Jahren noch bestärkt. Die Überwältigung, von der ich damals erzählt hab, dieses Unabwendbare, das in jemanden eindringt, wird seinerseits unabwendbar, offenbar ebenso unauflöslich. Zwecklos, sich dagegen zu stemmen. Es ist eine Entfremdung. Punkt.

Weil aber die meisten von uns sehr zäh am Leben hängen und es wegen solcher Verschiebungen nicht aufgeben wollen, muß das alles in der Gemeinschaft mit anderen untergebracht werden. Ich hab dabei etwas sehr lange unbeachtet gelassen. Wir erwarten üblicherweise, daß Gemeinschaft etwas von Verhandlungssachen hat und alle Seiten etwas beitragen müssen, damit die Gemeinschaft gelingt.

Diese Forderung kann ich keinem Menschen vorlegen, der mangels eigener Erfahrung ohne jede brauchbare Vorstellung ist, von welcher Dimension des Verrückens eine Überwältigung handelt. Andrerseits scheinen Überwältigungen so radikal zu sein, daß man aus der einen heraus nicht unbedingt auf andere schließen kann.

Demnach läge viel Trennendes, das überbrückt werden muß, in diesen Angelegenheiten. Die asymmetrische Verteilung einer Bürde ist allerdings kein günstiger Ausgangspunkt für halbwegs stabile Brückenschläge. Schmerz und Schrecken sorgen also für Asymmetrie. Nützt diese Annahme etwas? Ich weiß es noch nicht...

[kontakt] [reset] [krusche]