21. November 2017

Sarajevo. Dieses Wort steht für ein Phantasma in meinem Kopf. Da ist etwas von Wirrnis, Träumen, auch von romantischen Phantasien. Mit den Jahren hatte ich gelernt, in all dem zu entschlüsseln, was daran Exotismus ist, was daran eurozentrische Klischees sind.

Ich bin zum Schluß gekommen, daß ich dieses Konglomerat in meinem Kopf nicht aufschlüsseln und auseinanderklauben will. Das gehört alles zusammen. Gerade weil es zu einem unpräzisen Bild führt, assoziiere ich damit das Gefühl "Mein Europa".

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Die Lateiner-Brücke in Sarajevo

Aber ich kann es nicht ohne jenes Entsetzen denken, welches die 1990er Jahre so unauslöschbar in mein Sarajevo-Bild gezeichnet haben. Die tiefe Irritation über eine rasante Brutalisierung von Menschen, zu der wir uns so gerne distanziert haben, als wäre nicht ganz Europa an diesen Orten wie Sarajevo, Prijedor, Srebrenica zusammengestanden, um die eigenen Sündenfälle noch einmal zu feiern, diese Vergiftung von Gemeinschaften durch ethnische Anmaßungen.

Ich hab einmal bosnische Leute in Kosarac begleitet, als sie zum Erinnern und im Ertragen des Schmerzes von der Moschee zu den Gräbern ihrer Angehörigen gingen. Ich habe dort Frauen gesehen, die auf der Erde saßen und die Stelen der Gräber umarmten, weil sie die verlorenen Männer nicht mehr umarmen konnten. Ich sah Männer mit angewinkelten Armen am Rand des Friedhofes stehen, betend, und habe mich gefragt, wie man den Zorn bewältigt, wo sich Gewalttätigkeit und Überwältigung nicht abweisen ließen.

Aber all das ist natürlich nur ein Teil der Geschichte und der Geschichten, in die wir verwoben sind. Vor Jahren haben wir begonnen, die Linie von Wien über Beograd nach Istanbul näher zu betrachten. Drei kulturelle und politische Konzepte, vom Lateinischen über die Othodoxie zum Islam.

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Das Doppel-Portrait Gavrilo Princip und Charlie Chaplin von Radenko Milak vor der
Mörderhand von Selman Trtovac in der Galerie Duplex 100m2 in Sarajevo

Ich war etwa ab 2006 von der Idee bewegt, wir könnte alte Modi und alte Codes hinter uns lassen, könnten uns aufgrund gehabter Erfahrungen aus dieser aggressiven Gemengelage von Rassismus und Nationalismus befreien und einen neuen Code finden, etablieren, weshalb ich die Projektreihe "Next Code" nannte.

So ist es freilich nicht gekommen. Gerade die jüngere Vergangenheit belegt, daß wir lieber Old School statt Next Code praktizieren. Mir liegt nichts daran, über diese Verhältnisse in ein Lamento zu verfallen. Mir mißfällt das Gezänk, wie ich es derzeit in allen Lagern orte. So reproduziert man bloß den Old Code.

Ich habe hier am 15. März 2007 das "Tagebuch der Aussiedlung" von Dzevad Karahasan erwähnt, außerdem sein damals neues Buch "Berichte aus der dunklen Welt". Der bosnische Autor verhalf mir zu einem sehr gründlichen Nachdenken über diese Stadt und die Geschehnisse der 1990er, aber auch darüber, was die Agenda Kunstschaffender sein mögen.

Im gleichen Jahr habe ich ein Gespräch mit ihm notiert und dabei dieses Karahasan-Zitat vorangestellt: "Die Kunst schützt uns vor Gleichgültigkeit, der Mensch aber lebt, solange er nicht gleichgültig ist." Siehe: [link]

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Der bosnische Autor Dzevad Karahasan

Nun gehen wir Richtung 2018er Kunstsymposion. Naheliegend, daß wir dabei über die Spanne 1918-2018 nachdenken, zumal wir 1914-2014 sehr gründlich bearbeitet haben. (Davon später!) Die erste Absichtserklärung zum neuen Vorhaben kam dieser Tage zwischen dem Data Scientist Heimo Müller, dem Künstler Selman Trtovac und mir zustande. Es ist nun quasi ein Fähnchen in den Boden gerammt, um einen Ausgangspunkt zu markieren.

Jetzt wird das Vorhaben, dem ich den Arbeitstitel "Der Sarajevo-Kontext" verpaßt habe, zu entwickeln, zu präzisieren sein. Ich bin keinesfalls bereit, auf diese Stadt und diese Region als ein "System der Defizite" zu blicken, als Orte des Leidens und des Unglücks. An Sarajevo zu denken ist für mich eine Quelle der Inspiration.

-- [Der Sarajevo-Kontext] [Das 2018er Kunstsymposion] --

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