27. Februar 2017

Als junger Kerl hatte ich mich noch in aller Konzeptlosigkeit durch verschiedene Bibliotheken gefräst. Bücher rissen mir die geistige Enge auf, die man in den 1960er Jahren offenbar für notwendig hielt, um kleinen Kindern ein artgerechtes Gedeihen zu verpassen.

Ich hatte freilich mit meiner Familie einigermaßen Glück, weil da eine kontrastreiche Gemengelage wirksam wurde.

Luftschiffer, Antisemiten, blutige Veteranen und SA-Schläger, Widerstands-Akteure und Heldenmütter, Romantikerinnen und Auswanderer, Nazi und Briefmarkensammlerinnen, Liebenswürdige und Gewalttäter, was immer jemand behaupten wollte, das alles ließ sich nicht auf wohlgeordnete Verhältnisse hinbiegen.

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Ich hab grade nachgeschaut. Der erste Logbuch-Eintrag in dieser Leiste stammt vom 31.12.2003. Er zeigt unter anderem das Luftschiff meiner werten Verwandtschaft, des Onkels und der Cousins meiner Mutter. Oder etwa der Eintrag vom 10. April 2004, welcher bloß ein Bild beinhaltet, eine Postkarte von meinem Onkel Kurt.

Er fand den 12.12.1912 so bemerkenswert, daß er diesem Moment ein Poststück widmete. Da ist einerseits diese ikarische Haltung der Luftschiffer, denn damals fiel man noch allemal sehr leicht vom Himmel, aber die Mitmenschen empfanden solche Kühnheit als sensationell. Das sorgte für Massenaufläufe, wenn sich jemand in eben diesen unsicheren Himmel wagte. Oder andrerseits dieser Zug zum Symbolischen, der in so einem schönen Satz manifest wird: "Sende Dir ein seltenes Datum zum Andenken".

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Der Zugang zu Büchern konnte mir also jede Enge aufreißen. Dabei waren mir die Bildungsdünkel meiner Leute nützlich, denn es herrschte Konsens, daß Lesen bildet und Bildung war gut, so hieß es, denn die 1960er sind eine Ära von "Schmutz und Schund" gewesen. Damals blökte so mancher Spießer etwas vom "guten Buch" daher, das dem "Schund" gegenübergestellt werden möge.

Diese Nonsens-Kategorie hält sich auf verschiedenen Feldern bis heute; man denke nur an "Die gute Sache" oder "Eine gute Flasche Wein". (Wo mir sowas Nebulöses aufgetischt wird, bin ich gleich auf der Flucht.)

Der Inbegriff von "Schmutz und Schund" waren die "Schundhefteln", wahlweise "Comic-Hefteln". Interessanterweise standen die bei uns in keinem kulturellen Zusammenhang mit den "Groschenheften", den Kriminal-, Liebes- und Heimatromanen, welche meine Großmutter Marianne so schätzte, die Tochter von Fleischhauermeister Matthias Renner, dem Bruder des Luftschiffers.

Diese Groschenhefte belegten eine ganze Wand in der Trafik meiner Großmutter, waren ihr und ihrer Kundschaft eine beliebte Lektüre und mir ein erstes Referenzsystem in Sachen Literatur.

Von da aus zog ich eine Tages los, um mich durch Bibliotheken zu graben. Meine erste große Quest. Meine Abenteuerreise, auf der ich nicht bloß der Enge, sondern auch einigen anderen Qualen entkommen konnte.

Bei dieser Reise der Wandlungen und Erkenntnisse stieß ich irgendwann auf Erving Goffman. Durch ihn bekam ich eine Vorstellung, was man sich unter Devianztheroie vorstellen kann; einer Theoriensammlung zum "Abweichenden Verhalten". Ich konnte all das damals noch auf sehr unschuldige Art lesen, einfach staunend.

Jahrzehnte später hatten sich solche Einfrücke zu einer Art innerem Reisebericht geordnet; nicht gar so streng, nicht nach Kategorien sortiert, sondern eher wie eine Wunderkammer oder dergleichen, wie ich mir die Bibliothek von Canettis Kien vorstelle; ein Docuverse, in dem man verbrennt.

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Ich hab im vorigen Eintrag von einer Reserve zum Zerschmettern geschrieben. Das ist etwas, wo Devianztheroien zur Anwendung kommen. Daß jemandem abweichendes Verhalten zugeschrieben wird, und zwar in einem Ausmaß, dem gemäß solche "Abweichenden" sanktioniert, ja sogar zerschmettert, ausgelöscht werden können.

Das 20. Jahrhundert ist reich an Beispielen dafür und unser Europa, auch das der EU, sammelt neue Exempel solcher Zurichtung von Menschen. Das hatte mich jüngst bei einer Reise nach Wien beschäftigt, als Künstler Robert Gabris von den Lebensbedingungen der Roma in der Slowakei erzählte. Das ist freilich auch auf gesamt Europa anwendbar, in dem sich eine gut situierte weiße Deutungselite schon geraume Zeit neu formiert hat, um Abweichende zu definieren und zurechtzustellen.

Artist Is Obsolete

Wie sehr dabei Prinzipien einer liberalen Demokratie unter Druck geraten, erscheint vielen noch nachrangig, wenn sie bloß ihren eigenen Status absichern können. Das sind Zusammenhänge, die in laufender Kultur- und Wissensarbeit nicht ignoriert werden können. Andrerseits hat die Kunst keinerlei Aufträge, um an solchen Zuständen etwas zu bewirken. Daher skizziere ich eben erst meine Hauptthemen für das 2017er Kunstsymposion (Zu "Artist Is Obsolete"):

-- [Hauslos | Maschinerie | Kunst] --

Das will nun für Umsetzungen präzisiert werden. Mein Part ist komplementär zwischen die Arbeitsfelder der Anderen auf das Set gesetzt: [link] Zugleich ist oben "Die Quest" angeklungen, eine Reise der Wandlungen und Erkenntnisse, deren zweiten Abschnitt ich gerade festzulegen beginne...

-- [Die Quest II] --

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