28. Dezember 2015

Ich hab gestern Gerald Hüthers Ansicht notiert, Verbundenheit und Freiheit seien zwei wesentliche menschliche Grundbedürfnisse. Aristoteles hatte die Vorstellung, der Mensch sei ein Zoon politikon, ein geselliges Tierchen. Scherz beiseite, er meinte mit diesem Begriff ein auf Gemeinschaft angelegtes Wesen.

Ich dachte gerade, das wäre hier schon öfter zur Sprache gekommen, ist es aber nicht. Zuletzt am 16. August als wir gerade die Fahrt nach Beograd vorbereiteten, um dort das heurige Kunstsymposion [link] zu eröffnen.

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Ich hatte mich auf den Soziologen Gunnar Heinsohn bezogen, der mir zu diesem Bild Hüthers den Aspekt der Ambition beiträgt: "Um Brot wird gebettelt, aber um Position wird geschossen."

Wenn ich in den letzten Jahren etwas gründlich unterschätzt habe, dann die Kräftespiele, wo jemand seine Ambition durchsetzen möchte, seinen Ehrgeiz, losgezogen ist, um seinen Rang innerhalb einer Gemeinschaft zu verbessern.

Hüthers Vorstellung vom "Dazugehören dürfen und wachsen dürfen" erhält darin mitunter die Variante "Dazugehören und angekommen sein" beigestellt. Damit meine ich, wer seinen Rang gefunden hat, wird eventuell verbleibende Kraft darauf verwenden, daß ab nun alles bleibt wie es ist. (Sie merken gewiß, ich stehe dieser Variante etwas verächtlich gegenüber, was freilich eine lächerliche Pose ist.)

Dazu fällt mir Ein Satz von Albert Camus ein, der etwas pathetisch klingt, wenn ich ihn entwende, aber innerhalb seines Buches "Der Mensch in der Revolte" bloß ein Satz von vielen eleganten Sätzen ist, mit denen er reflektiert, was man Mitte des 20. Jahrhunderts sehen und folgern konnte:

"Wenn unsere Geschichte unsere Hölle ist, können wir unser Gesicht nicht davon abwenden."

Nein, ich hab keinen Zitatenschatz geplündert, sondern das Buch herausgesucht, um einige Annahmen zu überprüfen. Dadurch wurde klar, daß ich meine Bibliothek völlig neu ordnen muß, denn was sie momentan ist, wird dem Begriff nicht gerecht, sondern wäre eher als Depot zu bezeichnen, wenn nicht als Halde.

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In seiner Reflexion des erlebten Faschismus sieht Camus sogar bei den Barbaren einen "fürchterlichen Hunger nach Brüderlichkeit". Er begründet es mit einem Hauch Beunruhigendem so: "Das Geschöpf soll Freude haben, und wenn es keine Freude hat, braucht es ein Geschöpf."

Einige Absätze davor hatte er schon skizziert, was uns blüht, wenn wir es als Gesellschaft nicht schaffen wollen, Pflichten und Lasten so zu verteilen, daß allen in solchem Gemeinwesen ausreichend Raum, Kraft und Zeit bleiben, um sich dem zu widmen, was eben Hüther mit Zugehörigkeit und Freiheit zusammenfaß; was übrigens der Nationalismus simuliert, uns aber letztlich vorenthält.

Camus: "Noch die Zerstörung des Menschen bestätigt den Menschen. Der Terror und die Konzentrationslager sind die extremsten Mittel, die der Mensch anwendet, um der Einsamkeit zu entgehen."

Da er hier den Terror erwähnt, das läßt ja an unserer Gegenwart anknüpfen. Camus: "Der Durst nach Einheit muß gestillt werden, sei es im Massengrab."

Gegenwärtig? Wir haben ein Massengrab im Süden Europas. Das Meer. Daran ist neu, daß sich die Opfer selbst hineinbegeben haben.

Was fürchten sich hier die Leute angesichts der jüngsten Erfahrungen, daß es nun nicht mehr wir sind, die ihre überzähligen, hungrigen und zornigen Söhne in die Welt entleeren, wahlweise Kriege beginnen, um solchen Überschuß abzufackeln.

Selbstverständlich ernten wir gerade, was wir gesät haben. "Wenn unsere Geschichte unsere Hölle ist..." War das in den letzten Jahren gar so schwer zu begreifen?

In gut geölter politischer Gewandtheit machen wir aus dem denkbaren "Wir stellen uns den Konsequenzen der westlichen Kolonialisierung dieser Welt" ein "Wir sind nicht das Sozialamt der Welt".

-- [Konvergenz 2016] --

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