22. Juni 2012 Uuups! Ausladende Pause in dieser Abteilung. Ab dem 9. Juni hab ich
ein kleines Powerplay in der werten Nachbarschaft abzuwickeln gehabt. Von Null auf etwas
mit der neuen Website des Johann Puch-Musuems Graz: [link] Im Sinne von: Was geht
mit einer Verzweigung der Community ins Web, wenn die Leute in alle Winde zerstreut sind?
Dazu paßt nun auf kuriose Art, daß ich im vorhergehenden Eintrag Max Reder zitiert hab: "Im
Sommer Fahrradeln, im Winter Nähmaschinen." Das bezog sich auf den jungen
Johann Puch, der seinerzeit im Grazer Reinerhof bei der Firma Luchscheider
angeheuert hatte. Dieser Betrieb bot Nähmaschinen an und führte außerdem eine
Reparaturwerkstatt für Fahrräder.
Da ist vom späten 19. Jahrhundert die Rede. Diese
Ausstattung stammt aus jener Zeit und aus der Luchscheider-Werkstatt, was
bedeutet, daß Puch daran gearbeitet hat. Luchscheider besteht noch heute, jedoch
nicht mehr in Graz: [link]
Nähmaschinen, Schreibmaschinen, Fahrräder, diese Güter
haben einen äußerst engen handwerklichen Zusammenhang. Sie wurden teilweise von den
gleichen Leuten gebaut und gewartet, in den gleichen Geschäften verkauft.
Da beschäftigt mich nun, welchen Bedeutungszusammenhang
diese Verbindung hat. Es ist von symbolischer Kuriosität. Jeder dieser Apparate war recht
bald ganz allgemein in Haushalten verfügbar, was bedeutet, Text, Bekleidung und
Mobilität kamen auf neue Art in private Verfügbarkeit, wie ich das im bescheidenen
Zimmer-Küche-Ensemble meiner Großeltern in der Grazer Grabenstraße gesehen hatte.
Nein, eine Schreibmaschine gehörte dort nicht zum
Inventar, die stand dafür bei meinen anderen Großeltern am Ruckerlberggürtel. Da
wiederum fehlte meines Wissens die Nähmaschine. Na, egal, jedenfalls ist es interessant,
dieses Bedeutungsgefüge zu durchleuchten .
Stahl schneiden, das Feilen von Werkstücken, die Arbeit an
der Drehbank, höchst anspruchsvolle Tätigkeiten, für die man den Händen über tausende
Zugriffe die angemessene Virtuosität beibringen muß.
Das ist eine wesentliche historische Basis jener
Massenproduktion, über die wir ökonomisch zu jenem Wohlstand gekommen sind, den viele
unter uns für selbstverständlich halten. Nähmaschinen, Schreibmaschinen, Fahrräder.
Kleidung hat ja nicht bloß Schutzfunktionen, sie ist auch ein soziales Code-System.
Stoff, Textur. Da ist der Text nicht weit, das
Wortgeflecht, Gedankengewebe. Und die individuelle Mobilität, sei es metaphorisch, als
eine Beweglichkeit des Geistes, sei es physisch, wie das für breite Kreise überhaupt
erst durch erschwingliche Fahrräder Realität wurde.
In dem Zusammenhang konnte ich mir eben ein "Safety"
(Niederrad) mit "Kreuzrahmen" von zirka 1889 aus der Nähe ansehen: [link] Diese Fahrzeuge
sind heute extrem rar. Wenn man also das 20. Jahrhundert verstehen möchte, wird einiges
klar, sobald man den hier skizzierten Zusammenhang dieser Maschinchen näher betrachtet.
Die "soziale Umcodierung" ist etwas, das
spätestens unter den Nazi-Barbaren auf eine Art forciert wurde, die eine Massenkultur
konstituierte, welche wir heute leben. Das ist nun zwar eine verkürzte Darstellung, bei
der man aber reichlich fündig wird, wenn man etwas in die Tiefe geht.
Es ist natürlich auch etwas polemisch, wenn ich behaupte,
der Faschismus sei auf dem Fahrrad dahergekommen. Doch auch diese Skizze läßt sich
genauer ausfüllen. Es hat dann noch bis in die frühen 1960er gedauert, vorher waren
Automobile für den Großteil der Menschen nicht erschwinglich.
Es ist also ein Kräftespiel, das sich wesentlich innerhalb
der letzten 150 Jahre ereignet hat, in dem sich herausbildete, was wir heute ökonomisch
und kulturell leben. Eine Massenkultur im Massenkonsum, mit all den Annehmlichkeiten und
Problemen, die wir daraus bezogen haben.
So wird erahnbar, was Kulturschaffende daran zu tun haben
und warum kommende Umbrüche vor allem auch soziokultultrelle Themenstellungen beinhalten. |