15. November 2011 Manchmal
war etwas sehr mühsam und kippt plötzlich in eine Leichtigkeit, weil alles klappt. Das
kann mir einen sanften Schreck verursachen. Sind das die hundert Generationen Dienstboten
in mir? Das Leben war immer eine Schinderei. Und wer sich nicht schindet, der gilt auch
nichts.
Das ist ein brisanter Zusammenhang. Das ist eine Essenz des
Lebens in der agrarischen Welt. Ich darf mich meist am Schreibtisch schinden, was eine
ungleich angenehmere Situation ist, als sich vor oder hinter irgendwelchen Maschinen
schinden zu müssen. Ich ackere gerade in der Industriegeschichte des späten 19.
Jahrhunderts herum.
Was für ein schönes Maschinchen. Ein Apparat, der einige
soziokulturlle Sprengkraft hatte. Mit einer Lizenz für diese Art des "Swift"-Sicherheitsrades
der Coventry Machinists Co. begann die zivile Produktion Österreichischen
Waffenfabriks-Gesellschaft. So entstand in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre
jenes "Waffenrad", dessen Folgemodelle sich heute noch auf unseren Straßen
finden lassen: [link]
("Sicherheitsrad" meinte diese Bauweise im Kontrast zu den einstigen
"Hochrädern", die zu fahren mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden war.)
Das bedeutet auch, mein aktueller Text zu den Bastelbögen
von Michael Toson geht eben ins
Lektorat. Wir durchmessen damit rund ein Jahrhundert Mobilitätsgeschichte. Kurioser
Kontrast zu den poetischen Nischen, in denen ich mich gerade für unser Hainfeld-Session
herumtreibe: [link]
(Ab kommendem Samstag kann die Ausstellung von Flekatsch, Predotti, Ursprung und mir dort
gesehen werden.)
Ich hab im vorigen
Eintrag und im Zusammenhang mit Schloß Hainfeld vom Kosovo erzählt. Als ich
kürzlich mit meinem Freund aus dieser wüsten Gegend (Kosovo, nicht Hainfeld) beisammen
saß und wir über seine extremen Erfahrungen sprachen, fragte er mich: "Würdest
du kämpfen, Martin, wenn sie dir alles nehmen?" "Ich weiß es nicht",
mußte ich antworten, denn... ich weiß es nicht. "Aber wenn sie dich einsperren,
wenn sie dir deine Träume nehmen, würdest du nicht kämpfen?"
Ich vermied eine Entscheidung in dieser Frage und
erwiderte: "Man muß ja auch Waffen haben, um kämpfen zu können." Ich
dachte an Kolo Wallisch und seine Leute, die, kaum besser ausgerüstet als eine ärmliche
Jagdgesellschaft, gegen trainierte, bewaffnete Verbände gestanden hatten. Wallisch und
seine Leute nahmen den Tod in Kauf, um ihre Sache zu vertreten. Der Kosovare lachte. "Martin,
wenn Krieg ist, brauchst du nur kurz warten, dann gibt es alles."
Ich hab kein Talent zum Pessimismus. Aber ich mag mir
durchaus vor Augen halten, worin Situationen münden, in denen ganze Gesellschaften die
Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr auf würdige Art beantworten können. Da
ist dann meist sehr bald eine Stunde der Nationalisten und Falken. Vaterländische
Idioten, die Europas Haupterfahrungen reproduzieren: Wenn die Verteilung nicht mehr
klappt, gehen wir über Auschwitz oder Srebrenica zu neuen Verhältnissen.
Aber zurück zu etwas moderateren Konfliktlagen. Das Grazer
Künstlerhaus entwickelt sich momentan zu einem interessanten Kristallisationspunkt
kulturpolitischer Optionen. Und Begehrlichkeiten. Ich habe auf INFOGRAZ gerade
begonnen, den Stand der Debatten etwas zusammenzufassen: [link]
Das ist ja eine feine Hütte, in der Ausstellungen zu bauen
Vergnügen macht. Dort lassen sich gute Situationen realisieren. Ich hatte vor Jahren mit
einer serbischen Crew meinen Spaß bei der Arbeit im Künstlerhaus. Ein Ereignis, das
seine Spuren bis in die Gegenwart zieht, denn Selman Trtovac von "Treci
Beograd" hatte ich im Künsterlhaus näher kennengelernt: [link]
Nun ist eine Sanierung des Hauses fällig, zugleich eine
Neudeutung der Agenda. Was ich bisher in dieser Frage zu lesen bekam, hat ein paar wenige
interessante Punkte, ist ansonsten leider noch in einem Stadium, das Richard Kriesche in
einer Post an INFOGRAZ-Herausgeber Heinz Rüdisser so zusammengefaßt hat:
>>was ihre freundliche einladung zu einer
stellungnahme für das 'künstlerhaus' betrifft, so darf ich ihre aussage dazu aus ihrer
letzten mail wiederholen, die sie als eine 'obskure diskussion beschrieben haben.
damit drücken sie aus, was mich hindert einen beitrag leisten zu wollen. und ich will und
werde mich so lange nicht beteiligen, solange nicht eine dezitierte, verpflichtende
willenskundgebung von seiten der kulturpolitik vorliegt, eingebunden in einen
'kulturpolitischen strategie- und entwicklungsplan'. für placebos zur verfügung zu
stehen ist meine sache nicht, erst recht nicht ihre produktion zu befördern.<< |