24. Februar 2004
Die österreichische Schriftstellerin
Barbara Frischmuth fragt in einem Kommentar im Standard (vom 23. Februar), ob denn die Parlamente Europas
nichts besseres zu tun hätten als sich mit Kopftüchern zu befassen. Was mit einer
Debatte honoriger Herren korrespondiert, die sich unlängst einig waren, Europa werde in
naher Zukunft nach außen nur wenig Wirkung entfalten können, weil es intern eine
erdrückende Menge von relevanten Problemen zu bearbeiten habe.
Barbara Frischmuth
Diese Einschätzung bekräftigte ein
Schweizer Bürger, der berichtete, man hab das in der Schweiz erlebt, als es daran ging,
die Kantone mit ihren unterschiedlichen Menschen, Sprachen und Kulturen zu konsolidieren.
Aber. Europa will die Muslimas befreien. Hm. Gut. Wenns wahr wär. Dann würde ich sagen:
Machts gleich weiter Leute. Unter den armen Menschen der Welt stellen Frauen die Mehrheit.
Es gibt viel zu bearbeiten und zu lösen. Kopftücher werden dabei vielleicht nicht gar so
weit oben auf der Prioritätenliste stehen. Aber ganz so wird es vermutlich nicht sein.
Daß die Lebenssituationen von Frauen die Parlamente quer durch Europa beschäftigen.
Ich schrieb
unlängst: Ich bezweifle ja, daß man das Kopftuch generell und ausschließlich
als religiöses Symbol werten kann.
Dazu Frischmuth: Ob Tuch oder
Schleier, getragen wurden und werden weibliche Kopfbedeckungen dieser Art aus den
verschiedensten Gründen: traditionellen, modischen, religiösen und politischen, und das
seit der Zeit von Gilgamesch und der Schankwirtin Siduri. Wie verläßlich
funktioniert also unsere Einschätzung, wenn wir fremde Codes zu lesen bekommen?
Viktor Snjesnar
Meine jüngste Lektion in solchen Dingen
erhielt ich in Sankt Petersburg. Wo ich, bei Viktor, einem Maler, zu Gast, mein Zimmer mit
einem schweigsamen Ukrainer teilte. (Na servas! Ist da jeder Beistrich an seinem Platz?)
Dort wurde mir über dichte zehn Tage klar: Ich sehe nicht was ich sehe. Ich ziehe selbst
aus nächster Nähe die falschen Schlüsse. Wenn überhaupt etwas darüber zu erfahren
war, was das Leben dieser Burschen ausmachte, dann nur indem ich zuhörte. Und mir mit
Schlüssen sehr viel Zeit ließ.
Frischmuth schrieb: ... denn
auch der Begriff der Freiheit hat mehrere Nuancen. Vielleicht fühlt sich die Freiheit
unter dem muslimischen Kopftuch ein wenig anders an.
Tanja Ostojic,
Jasmina Jankovic & Mirjana Peitler
Was mich gerade an den letzten Wien-Törn erinnert, wo ich auf dieses Motiv auch
gestoßen war. In anregender Gesellschaft dreier überaus lebhafter
Balkan-Mädels (Nö! Bitte keine energische Post! Diese Formulierung hab ich
von einer der drei Frauen übernommen.) Da standen wir gerade mitten in der Ausstellung
Gastarbajteri. Wo
man ein wenig Transparenz finden kann. Zu genau dieser Neigung fremde Codes falsch zu
lesen, anderen Menschen die eigenen Kriterien überzustülpen.
Eine interessante These besagt, daß Kommunikation bloß
vom Austausch von Signalen handle, die jeder Mensch schließlich bewerten und deuten
müsse. Knifflig, hm? Es geht noch härter. Realitätskonstruktion. Leiblich sind wir so
gemacht, daß zum Beispiel eine Reizung der für visuelle Erlebnisse zuständigen
Gehirnregion dazu führt, daß wir visuelle Eindrücke haben. Ganz egal, welche
Körperpartie diese Reize liefert. Was heißen will: Daß wir mit den Augen sehen, ist nur
eine Annahme über eine von mehreren Möglichkeiten. Wie wissen wir was wir sehen? Wie
sehen wir, was da ist? Realitätskonstruktion ist ganz offensichtlich kein Geschäft
unserer Sinne, sondern ein Geschäft unserer Vorstellungen. Daß bei diesem Geschäft
Definitionsmacht eine wichtige Rolle spielt, überrascht hier sicher niemanden. Oder doch?
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