martin krusches [flame] logbuch / blatt #88


Straße des 20. Jahrhunderts VII
Eine kleine Formengeschichte

Zugegeben, auch wenn ich hier das 20. Jahrhundert zum Thema gemacht habe, das Hauptaugenmerk liegt in dieser Schilderung auf der zweiten Hälfte, die erste bekommt nur wenigen Notizen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann nämlich die Massenmotorisierung Europas. In den USA vollzog sich diese Geschichte dagegen ganz anders.

Dort rollte schon Ende des ersten Jahrzehnts die Tin Lizzy ins Land. Ein karges, preiswertes Vehikel, das viele Menschen zum Umstieg vom Pferdefuhrwerk bewegen sollte. (In der Subkultur hat überigens das T-Bucket, das modifizierte Model T, bis heute seinen Sonderplatz innerhalb der Hot Rod-Szene.)

log88a.jpg (28625 Byte)

Das Chassis des Ford Model T aus einem Handbuch von 1917

Das Ford Model T entstand in Serienproduktion am Fließband, da waren in Österreich zwischen 1906 und 1910 erst Kleinserien üblich. Das hieß damals oft nicht mehr als sechs bis zehn Einheiten pro Modell. Allerdings machten bei uns die Produktionstechniken dann zwischen 1910 und 1914 bemerkenswerte Sprünge. Neue Technologien und Verfahrensweisen griffen zügig.

In Europa war das Automobil (neben der Geschäftswelt) noch der Upper Class vorbehalten. Eine Formengeschichte ist dabei höchst komplex, denn reiche Leute kauften oft ein Chassis mit Motor und ließen sich von Handwerkern ihrer Wahl den Wagen fein einkleiden.

Natürlich gab es auch da Modeströmungen und stilprägende Elemente. Ich nenne als markantes Beispiel den Spitzkühler, wie er ab den 1920er Jahren schick wurde. Ab den 1930er Jahren wurde die Stromlinien zu einem äußerst mächtigen Stil-Aspekt.

log88b.jpg (26199 Byte)

Mehr Modeerscheinung als technische Notwendigkeit:
Spitzkühler an einem Steyr IV von 1922

Die Vielfalt ist in diesen teuren Segmenten enorm. Einzelne Kundenwünsche führten stellenweise zu Karosserien, die man im Rückblick als vorauseilend einschätzen wird, ihrer Zeit und dem gerade vorherrschenden Geschmack voraus.

Insgesamt war die Kundschaft der europäischen Vorkriegsautos im Bereich des aufstrebenden Bürgertums kulturell und ästhetisch sehr anspruchsvoll, was sich von einem Lebensstil herleitete, der den Adel zum Vorbild hatte. Erlesener Geschmack, der von exzellentem Handwerk bedient wurde, führte zu bemerkenswerten Schönheiten auf Rädern, wahlweise zu schrullig-exzentrischen Lösungen.

log88c.jpg (28584 Byte)

Nicht gerade im Lager der Eleganz zuhause: Austro-Daimler AD 16,
ein 1921er Sportwagen mit Spitzkühler und Bootsheck

Darauf kann ich hier nicht weiter eingehen. Wichtig scheint mir zum Verständnis unserer vertrauten Felder, daß sich zu Beginn des Automobilismus die motorisierten Kutschen sehr schnell erledigt hatten. Es setzten sich Voiturettes durch, die technisch und konzeptionell aus der Fahrradwelt kamen. (Siehe dazu den ersten Eintrag!)

Bis zum Jahr 1910 hatte sich die gesamte Branche rasant entwickelt. Von den zarten Ein- und Zweizylinder-Motörchen schaute die Kundschaft sich schnell nach Verzylinder- Triebwerken in entsprechend stärkeren Chassis um. Da folgte der Sprung zu sechs oder gar acht Zylindern ganz flott; und damit war das Limit bei Motoren längst noch nicht nahe. All das veränderte die äußere Erscheinung der Autos gravierend.

Nun ist der oben gezeigte Steyr IV ein eher kleines Fahrzeug, der AD 16 zwar imposant, aber kein Riese. Das waren Automobile für die Oberschicht.  Im Vergleich dazu erkennt man das Model T sehr gut als amerikanischen Volkswagen in spartanischer Ausführung; ein "Universal Car" in dortiger Diktion.

log88e.jpg (33294 Byte)

1915er Ford Model T: Markant strukturiertes, abgestuftes Häusel

In der Einleitung des oben erwähnten Handbuchs 1917 heißt es über die Anforderungen zur Massenmotorisierung sehr aufschlußreich: "There is only one make of motor vehicle in the world that is sold in large enough quantities to warrant the publication of a special treatise on its repair and maintenance and that is the Ford Model T, With the close of the 1916 season's business there will be at least 1,000,000 Ford cars of all types in use, perhaps more."

Während also Amerika schon preiswerte Automobile aus Massenfertigung kanne und man dort reichlich beschäftigt war, entsprechend geeignete Straßennetzwerke durch das Land zu ziehen, verzögerte sich all das in Österreich enorm. Einer der Hauptgründe war der von den Habsburgern angezettelte Große Krieg (1914 bis 1918).

Industrie und Absatzmärkte kollabierten, hohe Reparationszahlungen belasteten das Volk. Weite Bereiche der gut situierten Mittelschicht hatten über Kriegsanleihen die Vermögen eingebüßt und fielen als Autokundschaft mangels Kaufkraft aus.

log88f.jpg (25173 Byte)

1927er Ford Model T: Geglättete Torpedo-Karosserie

Ich bleibe zur Demonstration eines Design-Aspektes noch kurz in Amerika. Beim 1915er Model T erkennt man gut die starke Strukturierung des Aufbaues im Verlauf von Kühler zu Heck. Man war als Fahrgast noch ziemlich ungeschützt.

Freilich sind damals im Alltag noch keine hohen Geschwindigkeiten erreicht worden. Weder die Autos, noch die Straßen ließen das zu. Sonst hätte man die Leute für die Kurvenfahrten wohl festbinden müssen, damit sie nicht rausfallen.

Dagegen sind beim 1927er Model T die Linien geglättet, die Seitenwände hochgezogen. Im Wandel zur Torpedo-Karosserie saß man nun stabiler und sicherer. Kleiner Einschub: Auf Rennstrecken sah das natürlich anders aus. So lief etwa der muskulöse Blitzen-Benz mit seinen fast 200 PS im Jahr 1909 schon über die 200 km/h-Marke hinaus.

log88d.jpg (18862 Byte)

1909er Blitzen-Benz (Foto: Thesupermat, Creative Commons)

[Vorlauf] [Fortsetzung]
[Übersicht]

reset [25/15] home