Log #644: Dorf 4.0 Zusammenhänge
Keine Industrielle Revolution ohne
Agrarrevolution. Diese markante Feststellung hat sich mir bei aktueller
Literaturrecherche besonders eingeprägt. Das spezielle Kräftespiel wurde im 18.
Jahrhundert entfacht, hat aber ganz speziell die letzten 200 Jahre geprägt. Für unsere
laufende Arbeit war zu klären wichtig, ob Blicke in diese Vergangenheit uns nützen, wenn
wir mit den aktuellen Umbrüchen zurechtkommen wollen.
Ausschnitt aus einer Arbeit von Niki
Passath
Was geschieht mit uns, mit dem Land, mit der
Welt? Welche Rolle kann bei all dem die regionale Wissens- und Kulturarbeit spielen? Gibt
es Belege für die Machbarkeit einer kollektiven Kulturarbeit in der Provinz? Was meint
heute Provinz?
Das sind Zusammenhänge, die weiter auf dem
Arbeitstisch von Kultur.at liegen, bei Kunst Ost zur Debatte stehen. Im
Jahr 2017 ist es dabei sehr viel tiefer in einige grundlegende Aspekte jenes Laufs der
Dinge gegangen. Industrialisierung. Das Stadt-Land-Gefälle. Das Nord-Süd-Gefälle.
Zentrum/Provinz. Über die Dörfer. Die Vierte Industrielle Revolution. Was uns
im Dorf erreicht, zeigt eben längst auch globale Dimensionen.
Vor knapp einer Woche hat das Projekt "Vom Pferd zum Sattelschlepper"
geendet. Dem war 2016 ein Projekt zum Thema "Landwirtschaft-Wirtschaft
4.0 und die Auswirkungen auf die Mobilität" vorausgegangen. Außerdem haben
wir uns 2017 auch mit "Volkskultur 4.0: Eine Positionsbestimmung" befaßt.
Eine der Quellen, die ich durchforste, um
etliche Zusammenhänge unseres regionalen Geschehens besser zu begreifen, ist Ulrich
Menzels umfangreiches Werk "Imperium
oder Hegemonie?", in dem unter anderem jene Kräftespiele erläutert sind,
die über koloniale Entwicklungen in die Erste Industrielle Revolution geführt
haben. Menzel: "Dieser Text ist ein Werkstattbericht. Er stammt aus der Werkstatt
eines vor gut sechs Jahren begonnenen Projekts, das nichts Geringeres beansprucht, als
eine Erklärung der Welt zu liefern..."
Der aktuelle Stand unserer globalisierten
Welt, diese vernetzte Wirtschaft mit all ihren Konsequenzen, denen der Nationalstaat mit
seinen Grenzen auf vertraute Art nicht mehr gewachsen ist, hat eine komplexe
Vorgeschichte, die Menzel darlegt; in einer "Erklärung, wie die großen Probleme
und Konflikte der Welt bearbeitet werden, die aufgrund ihrer grenzüberschreitenden oder
gar globalen Reichweite die Regelungskompetenzen eines einzelnen Nationalstaats
übersteigen."
Bei solcher Lektüre nützen mir auch die
"Schriften zur Politischen Ökonomie" von Heinrich Bortis und da ganz
konkret seine "Wirtschaftsgeschichte".
Das hinterlege ich mit Details der Jahrgänge 1823 bis 1871 des Londoner The Mechanic's
Magazine. Diese historische Quelle bettet vor allem den wesentlichen Abschnitt um
1850 in viele anschauliche Details.
Balkenmäher von 1855
Dazu fügt sich äußerst nützlich das 1820
gegründete "Polytechnische Journal", vom Institut für
Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin verfügbar
gemacht. Die Textilindustrie war Vorreiterin solcher Prozesse. In England wurden
Landreformen und Umstiege von Wolle zur Baumwolle wesentliche Faktoren der frühen
Industrialisierung. (Agrarische Themen!)
Über sogenannte Göpel verstand man bei uns, Tiere als Kraftquelle für den
Antrieb von Maschinen zu nutzen. (Vor allem Pferde und Esel, aber auch Kühe, gelegentlich
Hunde.) Viel wichtiger wurde freilich die Wasserkraft, wie sie vor allem bei Mühlen zur
Wirkung kam. (Agrarische Themen!)
Bortis sieht dadurch im Mittelalter unsere
Maschinenbau-Tradition begründet: "Die Mühle, Nutzung der Wasserkraft, um
einfache mechanische Anlagen anzutreiben, führt in West- und Zentraleuropa zu einer
Maschinenbau-Tradition. Diese hat dann die technischen Grundlagen für die Industrielle
Revolution geliefert."
Er verweist dabei auf den Kulturhistoriker
John Nef, nach dessen Ansicht "im Zusammenhang mit der Mühle von einer
mittelalterlichen industriellen Revolution" die Rede sei, welche "allerdings
keine grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen mit sich brachte."
Damit will ich deutlich machen, daß selbst
bei der Betrachtung des 19. Jahrhunderts die Stahlindustrie noch nicht dominierte, sondern
erst viel später zum Angelpunkt dieser technischen Revolution wurde. Davor war das alles
ganz stark mit agrarischen Produkten, also mit der Landwirtschaft verwoben.
Wenn wir heute zwischen bäuerlicher
und industrieller Landwirtschaft unterscheiden, ist derlei Verzahnung der Genres
nach wie vor gegeben und sollte in unseren Betrachtungen vorkommen. Um es auf unsere
Region anzuwenden: Hier sind Bereiche des agrarischen Lebens, der Industrialisierung und
der urbanen Verhältnisse verknüpft. Das wird nach meiner Einschätzung deshalb so
interessant, weil diese aktuelle Wechselwirkung von Menschen gelebt wird, die mehrheitlich
über Generationen in der Mentalität eines agrarischen Lebens geprägt wurden.
Das halte ich für einen kulturell sehr
wichtigen Aspekt. Allerdings sehe ich zwei große Schübe in der Veränderung der
individuellen Mobilitätm die das massiv akzentuiert haben. Einer ging über 1848 und die
Bauernbefreiung einher, erhielt auf technischer Ebene dann Ende des 19. Jahrhunderts das
sogenannte Niederrad (Safety), eine revolutionäre Fahrradkonstruktion,
von der das Leben der Menschen verändert wurde.
Niederrad mit dem typischen
Diamantrahmen:
Hermet (Frankreich) von zirka 1893
Der andere Schub setzten nach dem Zeiten
Weltkrieg ein, als sich eine Volksmotortisierung vollzog, die vor allem auf dem
massenhaften Privatbesitz von Automobilen beruht. Das sind Zusammenhänge, durch die sich
heuer die Themengliederung Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst
sozialgeschichtlich unterlegen läßt.
Das soll auch deutlich machen: Es ist nicht
die Aufgabe der Kunst, uns all das zu klären, wie ja Kunst überhaupt keine anderen
Aufgaben hat, außer jenen, die sich aus ihr selbst ergeben. Aber im gesamten Ensemble
einer regionalen Wissens- und Kulturarbeit ergeben sich Bezugspunkte und
Erkenntnismöglichkeiten, die mit der Kunst korrespondieren.
-- [Dorf 4.0] --
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