log #483: wunderkammer

In meiner kleinen "Wunderkammer", ein quasi begehbares Bilderrätsel, gibt es unter anderem eine "Vitrine des 20. Jahrhunderts" [link] Angelpunkt dieser Vitrine ist das Dreier-Set einer 20 Cent-Münze aus aktuellem Umlauf.

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In der Vitrine befinden sich Stücke, die ich in letzter Zeit aus dem Wechselgeld gekramt habe. Sie werden vermutlich, einmal darauf aufmerksam, auch ganz leicht Exemplare davon unter Ihrem Wechselgeld entdecken können. Was darauf zu sehen ist, entstammt dem Futurismus, einer ziemlich aggressiven avantgardistischen Kunstrichtung vom Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Das Abbild einer Arbeit von Umberto Boccioni zeigt uns nicht bloß ein kanonisiertes Kunstwerk, welches in seinem künstlerischen Rang außer Diskussion steht. Das futuristische Menschenbild, "Forme uniche nella continuità dello spazio" von 1913 (MOMA New York), verweist auf den Faschismus.

Das "Manifesto del futurismo" von Tommaso Marinetti ist aus heutiger Sicht ein menschenverachtendes Machwerk von bemerkenswerter Brutalität.

Marinetti, der auf Fotos ähnliche Posen wie Mussolini bevorzugte, hat diesen Text am 20. Februar 1909 im Pariser Le Figaro publiziert: [link] Siehe dazu auch "Wir wollen den Krieg verherrlichen" im Spiegel: [link]

Die Figur von Boccioni erscheint als kurioser Vorbote trivialer Motive, quasi eine Mischung aus Iron Man [link] und Optimus Prime von den Transformers [link], in allem also der maschinisierte Mensch, genauer: der moderne Mensch als Battle Mech.

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Damit will ich vor allem auch sagen, daß ich den Faschismus für einen Angelpunkt des 20. Jahrhunderts halte. Schon seine Vorgeschichte verzweigt in praktisch alle Lebensbereiche. Der Futurismus führt uns die Ästhetisierung des Faschismus, also auch die Ästhetisierung der Menschenverachtung vor.

Das hatte nicht bloß seine Höhepunkte in der Propaganda und in den Inszenierungen von Massenkultur der Nazi, das hat seine gegenwärtigen Entsprechungen in Teilen der Unterhaltungsindustrie.

Gewaltverherrlichung, Maschinenverliebtheit, ostentative Frauenverachtung [link]... Wir müssen nicht lange suchen, um diese Elemente in unserer gegenwärtigen Alltagskultur aufzufinden.

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Was war von Anfang an der Schmierstoff des Faschismus? Er hätte ja ohne seine motorisierten Verbände, seine waffenstarrende Maschinerie, nie ein solches Ausmaß an Grauen erreichen können, was übrigens das davor ungekannte Massenschlachten im Ersten Weltkrieg schon erahnen ließ; in eben solcher Maschinisierung des Krieges.

Schmieröl und Treibstoff sind das Blut des Faschismus. Deshalb liegt eine "Pilgermuschel" in der Vitrine. Sie repräsentiert die zwei Optionen, einerseits das Zeichen des heiligen Jakobus. Es heißt, Pilger des Mittelalters hätten die Jakobsmuschel zum Wasserschöpfen benutzt und als Zeichen ihrer Pilgerfahrt offen am Gürtel getragen.

Andrerseits hat der Industriedesigner Raymond Loewy 1967 das Firmenzeichen der Royal Dutch Shell in einem Redesign auf jene formale Linie gebracht, die uns allen heute von Tankstellennetzwerken des weltgrößten Ölkonzerns vertraut ist. Siehe: [link]

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Das sind die Zusammenhänge, weshalb sich ein Stück Nippes in der Vitrine befindet, ein Glasuntersetzer aus bedrucktem Blech, der uns eines der ersten modernen Automobile zeigt, den Patentwagen von Benz. Das bedeutet auch, durch eine Revolution der individuellen Mobilität über neue Technologien, neue Fahrzeuge, wurde eine Massenmobilisierung im doppelten Sinn des Wortes eingeleitet, physisch und ideologisch.

+) Siehe dazu auch: Flow (Was haben Schönheit und Geschwindigkeit
    miteinander zu tun?)

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18•15