log #423: die gefolgschaft des
ikarus Flow
(Was haben Schönheit und Geschwindigkeit miteinander zu tun?)
Die Schönheit und die Geschwindigkeit sind zwei kulturelle
Konzepte, mit denen wir seit Jahrtausenden intensiv befaßt sind. Ihre jeweilige Deutung
in der Zeit findet sich in Überlieferungen, Texten und Darstellungen.
Helios-Relief vom Athenatempel in
Ilion (Troja), ca. 3. Jahrhundert v. Chr.
In unseren Mythen überstrahlt keine Schönheit die der
Sonne, von der wir gewärmt, von der unsere Welt erhellt wird. In der Antike war sie als
der Sonnenwagen des Gottes Helios gedacht, mit dem er täglich das Firmament überquert.
Diese Geschichte handelt aber auch von seinem Sohn Phaeton, der ihm den Wagen
einmal abschwatzte und damit in den Tod raste.
Die Zugkraft der Tiere und die kontinentale Raumbeherrschung durch Reiterei sind
Fundamente dessen, was wir uns unter Zivilisation vorstellen, was aber auch Tod und
Zerstörung ermöglicht. In Europa hieß das hauptsächlich Ochsen und Pferde.
Der 5. Januar 1769 war ein Tag, welcher den Lauf dieser Dinge grundlegend veränderte. Zu
diesem Datum begann ein gewichtiges Dokument mit den Worten: To all to whom
these presents shall come, I James Watt, of Glasgow, in Scotland, Merchant, sent
greeting.
Es ist das Patent Nummer 913, mit dem der Schotte Details zu entscheidenden Verbesserungen
des Wirkungsgrades von Dampfmaschinen festschrieb. Rund hundert Jahre später liefen die
ersten Automobile und Hochräder auf unseren Straßen. Ganze Gesellschaften hatten
begonnen, sich rückhaltlos zu beschleunigen.
Ab 1910 kann man auch in der Steiermark von
einer soliden Automobilproduktion und Fahrzeugindustrie sprechen. Die revolutionären
Niederräder (Safeties) hatten sich als jener Standard durchgesetzt, der bis
heute dominanter Status quo ist. Das ergab massive wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Konsequenzen.
Ein Jahr davor, 1909, hatte der Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti das erste
futuristische Manifest veröffentlicht, in dem nicht nur Faschismus und
Massenmotorisierung vorgezeichnet sind, er setzt auch ausdrücklich Geschwindigkeit mit
Schönheit gleich. Unter Punkt 4 heißt es da:
Wir erklären, daß sich die
Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit
bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.
Marinetti konstatierte höchst provokant, ein Rennauto sei
schöner als die Nike von Samothrake. Einige Jahrzehnte später verglich Philosoph Roland
Barthes in seiner bedeutenden Aufsatzsammlung Mythen des Alltags
ebenso provozierend den Citroen DS (Déesse) mit gotischen Kathedralen.
Das war natürlich ein Generalangriff auf die
Bildungsideale der jeweiligen Zeit. Mit seinem Punkt 5 nahm Marinetti vorweg, was die
Nationalsozialisten Anfang der 1930er-Jahre zum Hauptgegenstand einer völlig neuen
Massenkultur gemacht haben, deren elaborierte Version wir heute leben. Wir wollen den Mann besingen, der das
Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn
dahinjagt.
Verehrten Völker der Antike also die
dahinjagende Sonne (Sonnenwagen des Helios), so ist nun die auf ihrer Bahn rasende Erde im
Fokus der Emotionen.
1968 war dieser Gedanke radikal weitergeführt
worden. |
Futuristisches
Menschenbild: "Forme uniche nella continuità dello spazio", 1913, von Umberto
Boccioni (MOMA New York) |
Und zwar von einem der einflußreichsten
Denker (westlicher Prägung) im 20. Jahrhundert. Richard Buckminster Fuller publizierte
seine Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde (Operating Manual
for Spaceship Earth).
Die Erde also nicht mehr unsere Basis, sondern unser Vehikel. Aber zurück zu Marinetti
(einem Verehrer des Benito Mussolini) und den unmittelbaren Folgen technischer
Entwicklungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Punkt 1 des Manifestes lautet:
Wir wollen die Liebe zur Gefahr
besingen, die
Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.
Mit diesem angedeuteten Primat des Automobilismus und dem
Rennfahrer als Haupthelden moderner Erzählungen tauchte eine völlig neue
Mischung aus Populär- und Massenkultur auf. Eines der Schlüsselworte dieser mit allen
verfügbaren Medientypen zusammengebrauten Massenkultur ist in unserer Populärkultur
gerade wieder aufgefrischt worden. Es lautet SILBERPFEIL. Ich darf einen Zeitungsbericht
vom 20.04.2013 zitieren:
Es geht um Mercedes-Benz. Und der
Anspruch von Mercedes-Benz ist es, an der Spitze zu sein, sagt Christian
Toto Wolff. Der 41-jährige Wiener verantwortet seit Anfang des Jahres die
gesamte Motorsportabteilung des Daimler-Konzerns. [Quelle: Kurier]
Der Titel dieser Story lautet: Silberpfeil mit
rot-weiß-roter Färbung (Auch in Bahrain gehört Mercedes zu den Favoriten. Zwei
Österreicher beschleunigen das Team).
Die Wurzeln dieses Begriffs liegen im Bedürfnis der Nazi, den internationalen
Automobilrennsport zu dominieren, um so ihre Ideologie auf attraktive Art zu promoten.
Deshalb hatte die Regierung erhebliche Summen in die Arbeit von Mercerdes-Benz und Auto
Union (heute Audi) investiert.
Im Windkanal entwickelt: Der
Chrysler Airflow von 1934
(Foto: Creative Commons by Liftarn)
Das Motiv verdankt sich einem kuriosen
Prozeß, in dem ein spezielles technisches Detail zum kulturellen Code wurde; wohl weil es
auch spezielle ästhetische Qualitäten bietet. Dabei nützt es zu wissen, daß die
größten Leistungsfresser beim Automobil der Rollwiderstand der Reifen und der
Luftwiderstand des ganzen Gefährts sind.
Mit dem Chrysler Airflow kam 1934 der erste amerikanischen
Serienwagen in Stromlinienform auf den Markt. Es ist auch das Jahr des Pioneer
Zephyr, einer der ersten Stromlinien-Zugsgarituren in den Staaten.
1934 sah man erstmals auf der AVUS in Berlin und beim Eifelrennen Fahrzeuge der Auto Union
und von Mercedes-Benz mit glatten, silbernen Karosserien. In den Jahren danach waren auf
den Rennstrecken schlanke Monoposti und mächtige Fuhren in Vollstomkarosserien
zu sehen.
In den Jahrzehnten danach setzte sich die Stromlinie als visueller
Code durch, welcher Tempo, Schönheit, Dynamik, Zukunftsorientierung ausdrücken sollte.
In meinen Kindertagen habe ich die Formensprache der Stromlinie sogar an
Espressomaschinen, Staubsaugern und Bleistiftspitzern sehen können. Selbst Häuser wurden
teilweise diesem Konzept unterworfen.
1934er Mercedes-Benz W25
(GNU-Lizenz: Daniel Wimpff)
Nebenbei: Das erste Buch eines der
bedeutendsten amerikanischen Autoren aus dem Umfeld von Norman Mailer und Truman Capote,
nämlich Tom Wolfe, trägt den Titel Das bonbonfarbene tangerinrot gespritzte
Stromlinienbaby und gilt als Schlüsselwerk des New Journalism.
Gegenwärtig wäre wohl zu überprüfen, welche Zusammenhänge wir zwischen einer
permanent beschleunigenden Gesellschaft und problematischen Schönheitsidealen vermuten
müssen. Auf der Schattenseite solcher Zusammenhänge ist vermutlich gleichermaßen von
Beschleunigungsopfern und Schönheitsopfern zu reden.
Welche Rollen spielen dabei visuelle und kulturelle Codes? Womit werden die Bilder
ideologisch aufgeladen? Welche Gründe und Mittel zur Intervention mag es dabei geben? Auf
symbolischer Ebene wäre zu fragen:
Warum sind wir im Westen vor allem
Ikarier, hängen also dem Ikarus an, der hoch geflogen und in den Tod
gestürzt ist, während wir seinen Vater Daedalus, den klugen Handwerker und soliden
Flieger, der sein Ziel erreichte, fast vergessen haben?
[die gefolgschaft des
ikarus] ["In Bewegung": Notizen]
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