log #357: kunst ost

zur lage: zentrum/provinz

die politischen bezirke, wie wir sie heute kennen, in meinem fall der bezirk weiz, sind eine konsequenz von 1848. als damals die "erbuntertänigkeit" abgeschafft wurde ("bauernbefreiung"), begannen sich neue machtverhältnisse zu etablieren. das verlangte auch andere verwaltungsformen. so bildeten sich die bezirkshauptstädte auf neue art als zentren heraus.

parallel dazu hatte die industrielle revolutuion längst prozesse in gang gesetzt, durch die sich zentren formierten, welche wuchsen, indem sie ihre peripherie ausplünderten. die agrarische welt wurde eine unerschöpfliche quelle von arbeitskräften, rohstoffe mußten angehäuft werden etc. das grundmuster dazu hatte sich schon früher gezeigt.

mit dem frühkapitalismus und dem blühenden fernhandel war europa daran gegangen, sich als zentrum durchzusetzen, das sich den rest der welt als peripherie, als provinz nutzbar machte. (eine konsequenz vor allem der technologischen sprünge in der seefahrt.) das geriet auch zu einer kulturellen conquista. der "eurozentrismus" ist als denkschema heute noch ebenso präsent wie das alte denkmodell zentrum/provinz.

grob gefaßt haben wir nun wenigstens zwei jahrhunderte intensive erfahrungen, wie sich zentren bilden, indem sie ihre peripherie als ihre "provinz" markieren und sich nutzbar machen. diese zwei jahrhunderte sind mentalitätsgeschichtlich in der gegenwart äußerst wirksam.

dazu kommt schon lange ein hartes wettrennen von regionen um standortvorteile. auch das ist inzwischen offenbar längst zu einem stück aktuell wirkmächtiger mentalitätsgeschichte geworden.

diese schemata bewähren sich äußerst negativ in einer neuen welle der "landflucht", die längst eingesetzt hat, wodurch das alte gefälle zwischen zentrum und provinz neue verianten bildet. (siehe dazu den vorigen eintrag!)

ich habe im kulturberich jahrelang -- mit annähernd keinem erfolg -- versucht, eine neudeutung des denkmodells "zentrum/provinz" zu erwirken. im jahre 2009 habe ich mich sogar für einige zeit von diesem ansatz abbringen lassen, als ich während der "ncc09", der "netart community convention", von leuten aus graz nachdrücklich dargelegt bekam:

"das ist alles längst nicht mehr so. wir haben in graz die gleichen probleme wie ihr in der provinz."
[link]

diese auffassung ist kontrafaktisch. genauer: unwahr! auch jetzt, nein, vor allem jetzt, wo gekürzte budgets zu einem klaren verteilungswettkampf führen, sind allerhand steirische kulturschaffende noch nicht einmal bereit, die themenstellung wenigstens zur kenntnis zu nehmen.

als ich diesen juli in einem forum bezüglich verfügbarer kulturbudgets schrieb: "hat das auch schon amal wer bezüglich des verhälrnisses graz/restliche steiermark herausgerechnet?" antwortete ein mit dem betrieb gut vertrauter journalist: "Martin Krusche nur zu! ich denke, wir wissen, wie´s ausgeht: gleisdorf vor leibnitz vor graz, oder".

sehr lustig!

bei anderer gelegenheit bekam ich ausgerichtet, ich sei womöglich ein "auseinanderdividierer", da ich der kulturszene solche überlegungen zumute.

vor wenigen tagen meinte ein grazer netzkultur-funktionär in einer debatte: "ich weiß ihr seids so arm da draußen..." diese arten der polemik sind platzhalter für die ausgesetzte debatte, der sich auch eine ig kultur steiermark bisher nicht widmet. es geht beispielsweise um folgende faktenlagen:

1) das landezentrum graz genießt im FINANZAUSGLEICH eine pro kopf-quote wie wien, während die restlichen steirischen gemeinden beim finanzausgleich österreichs schlußlicht sind. es gibt also in der frage der "verteilung der staatlichen einnahmen und ausgaben zwischen bund, ländern und gemeinden" ein eklatantes stadt-land-gefälle.

2) seit 2003, da graz kulturhauptstadt europas war und die kassen auf jahre geleert wurden, übernimmt das land steiermark einen unverhältnismäßigen mehranteil von förderaufgaben des grazer kulturgeschehens, weil die stadt selbst vieles davon nicht leisten kann. auch hier ein stadt-land-gefälle, denn an VERTEILUNGSGERECHTIGKEIT, die nicht nur nach quoten, sondern auch nach sachfragen und konkreten aufgabenstellungen zu bemessen wäre, ist vorerst nicht zu denken.

und das alles vor dem hintergrund der "provinz- situation", wo lokale kulturbudgets, soweit überhaupt vorhanden, in vielen bereichen schon 2010 um bis zu hundert prozent (!) gekürzt wurden. in größeren orten, wie etwa in der stadt gleisdorf, sah es konkret so aus: das kulturbudget wurde 2010 gegenüber 2009 um rund 60 (!) prozent gekürzt. heuer, 2011, sind es gegenüber 2009 minus 75 prozent. (noch fragen?)

das bedeutet, die stadt bedient (logischerweise) vor allem ihre alteingesessenen institutionen und kulturformationen. der "szenebereich" ist praktische auf null gesetzt und darf gerade noch mit einigen sachleistungen rechnen, etwa einer handvoll farbkopien für veranstaltungszwecke, die lieferung eines stapels von stühlen der gemeinde für eine veranstaltung, das aufhängen von gelieferten plakaten durch personal des kulturbüros und... aus!

dazu kommt, daß wir in der "proviunz" natürlich nicht diese dichte an kulturinteressierten bürgerinnen und bürgern haben, die ihre kulturellen ansprüche entsprechend geltend machen würden, was sich kulturpolitisch positiv auswirken könnte. da pendelt man zu interessanten veranstaltungen eben nach graz, auch nach wien.

wir haben demnach nicht annähernd den rückhalt im einsatz für ein lebhaftes kulturelles klima, wie er in einem landeszentrum gewachsene tradition ist, seit sich ein bürgertum gegenüber den alten eliten (adel und klerus) emanizipiert hat.

wir haben natürlich auch nicht das politische und mediale augenmerk, wie das kulturgeschehen im zentrum graz. ich nehme als kleines beispiel: als wir vor einigen monaten eine crew der "kollektiven aktionen" aus moskau hier auf meiner "strecke" hatten, was uns rund vier jahre vorarbeit gekostet hat, wäre es ein kleines stück bekräftigung unserer bemühungen gewesen, wenn das die eine oder andere kulturredaktion aufgegriffen hätte: [link]

diese crew rund um andrei monastyrsky ist nicht nur ein bedeutendes beispiel der konzeptkunst des 20. jahrhunderts, die "kollektiven aktionen" bespielen zur zeit den russischen pavillon bei der biennale in venedig [link]

es würde uns kulturschaffenden in der region demnach sehr helfen, wenn so ein bemühen um gegenwartskunst von internationalem rang auch durch mediale unterstützung, etwa auf kulturseiten, in der wahrnehmung der hiesigen bevölkerung auftauchen könnte. das ist aber, wie sich zeigt, nicht einmal mit so einer hochrangigen formation zu erreichen.

unterm strich haben wir hier die schwächeren kulturellen strukturen als graz, stellenweise auch gar keine. wir haben kaum regionale kulturbudgets. wir haben generell ein mehrfaches stadt-land-budgetgefälle. wir haben das geringere mediale augenmerk etc. etc.

ganz zu schweigen davon, daß selbstverständlich allerhand begabte leute, die sich ernsthaft der gegenwartskunst widmen, in zentren abwandern, weil hier in der region weder adäquate ausbildungsmöglichkeiten bestehen, noch ein markt wäre, der ein ökonomisches reüssieren zuließe.

ich beklage das nicht weiter, weil wir ohnehin hart trainiert sind, unter diesen bedingungen terrain zu halten, damit hier der kulturbereich vor allem bezüglich GEGENWARTSKUNST nicht völlig marginalisiert oder gar abgeschafft wird, während tourismusverbände die "konkursmasse" übernehmen und damit "bunte abende" aufziehen.

aber ich ringe um wahrnehmung des status quo und daß wir in der steiermark einen kulturpolitischen diskurs haben können, der von solchen realitäten auch explzitit handelt. es ist nicht akzeptabel, daß sich lobbies formieren, die sich ein mandat anmaßen, die heimische initiativen-szene zu repräsentieren, ohne daß ich deren funktionstragende je in der "provinz" zu gesicht bekomme und ohne daß der reale GESAMTSTEIRISCHE stand der dinge zur sprache käme.

auch verbitte ich mir die arrogante abschätzigkeit, mit der sich manche "zentrums-leute" äußern, wenn jemand versucht, diese aspekte des steirischen kulturgeschehens zu thematisieren. ich erwarte, daß mit einem mindestemaß an intellektueller redlichkeit der status quo des GESAMTEN LANDES zur kenntnis genommen wird und in kulurpolitischen dikursen vorkommt.

die verweigerung solcher gesamtschau würde ich als feindselige haltung in einem verteilungskampf werten, wo u.a. verhüllt werden könnte, daß graz seine standortvorteile seit jahrzehnten zu nutzen weiß und einen inadäquat hohen anteil der verfügbaren mitteln konsumiert, während von graz aus ein scheindiskurs über die kulturpolitik der STEIERMARK forciert würde. das boot, in dem wir vielleicht gemeinsam sitzen möchten, muß erst gebaut werden.

martin krusche
künstler

[kunst ost]


coreresethome
27•11