log #316:
avantourismus>>Obwohl
die Großstadt nach einer ziemlich allgemein geteilten Ansicht die Nervosität befördert,
ist der Provinziale begreiflicherweise gegenüber dem ihm ungewohnten Lärm und Treiben
weit unruhiger und nervöser als der mehr daran gewöhnte Großstädter. Letzterer hat
eben mit größerer oder geringerer Vollkommenheit eine Art vom sechsten Sinn erworben,
für den ein Mitarbeiter des "Lancet" die glücklich gewählte Bezeichnung des
"Verkehrssinns" erfunden hat. Dieser Verkehrssinn kann als eine gesteigerte
Feinfühligkeit des gesamten Nervensystems gegen die Einzelheiten des großstädtischen
Straßenlebens aufgefaßt werden, und seine Ausbildung ist wünschenswert und in gewissem
Grade sogar notwendig.<<
... zitiert Jutta Czabaun in ihrer Diplomarbeit
Die Reaktionen der Bevölkerung auf den frühen Automobilismus in Österreich"
aus "Wienerwald Bote" vom 19. August 1905: [Quelle]
Verkehrssinn
Ein anregendes Stichwort. Es ist übrigens verblüffend
festzustellen, wenn man alte Quellen durchsieht, daß eine ganze Reihe von
gesellschaftlichen Konflikten aus der Zeit des frühen Automobilismus heute noch ebenso
bestehen und teils mit den gleichen Argumenten ausgetragen werden. (Wenig Bewegung in
manchen Fragen, nachdem nun rund ein Jahrhundert um ist!)
Hier ein Inserat aus "Allgemeine
Automobil-Zeitung" vom 10. Februar 1901. In jenen Tagen begannen zunehmend
heftige Konkurrenzen zwischen den Benutzerinnen und Benutzern der Straßen auf ganz
unterschiedlichen Tempo-Levels. Zu Fuß, per Fahrrad oder Fuhrwerk, in der
Elektrostraßenbahn und schließlich per Automobil.
Das war natürlich anfangs ein urbanes Phänomen. Diese
Konflikte wurden teils in massiven "automobilfeindlichen Vorfällen"
ausgetragen. (Auch das scheint wieder an Aktualität zu gewinnen.)
Am 5. Juli 1902 erschien dieses Inserat in der Zeitschrift "Sport
und Salon". Man beachte beim oberen Insert den Hinweis: "complet und fertig
fahrbar zum Aufsetzen der Carosserie"! Es wird noch zu debattieren sein, wie in
Europa der Autobau anfangs ganz auf eine reiche Minorität zugeschnitten war, deren
elaborierter Geschmack sich auch über die teils einzeln angefertigten Karosserien und
hohes technisches Level darstellen wollte. Dagegen war in den USA sehr bald eine Tendenz
zu Massengeschmack und Massenverfügbarkeit zu sehen.
Wie diese zwei Phänomene gerade HEUTE eine kuriose
Vermischung ihrer Konsequenzen zeigen, ist vor allem auch eine soziokulturelle
Themenstellung, mit der wir uns befassen werden.
Das Projekt "ANNO" ("Austrian Newspaper
Online") der "Österreichischen Nationalbibliothek" bietet
einen wachsenden Archivbestand via Web an und ist somit eine wertvolle Quellen geworden: [link]
In einer Autobahnraststätte in Zöbern hatte ich eben, auf
etwa halbem Wege zwischen Graz und Wien, eine kleine Konferenz mit den Avantouristen
Michael Toson (oben) und Norbert Gall (unten). Wir haben unter anderem mögliche Vorhaben
für das kommende "April-Festival" von "kunst ost"
erörtert. (Siehe dazu auch Log #215!)
Abarth-Brand Manager Gall
erzählte, im Hause Fiat sei man darauf eingestellt, das Prinzip des Otto-Motor bis zur
letzten möglichen Konsequenz auszureizen. Ein interessanter Kontrast zu Companies, die
inzwischen begonnen haben, ganz andere Motorenkonzepte zu erproben.
Wir sind jedenfalls weitgehend
einig, daß das Automobil der wirkmächtigste Mythos dieser Gesellschaft während des 20.
Jahrhunderts ist. Diese quasi-mythische Dominanz bietet uns leidenschaftlich verfolgbare
Themenstellungen, aber eben auch eine Reihe massiver Probleme.
In all dem klingen freilich nicht
bloß technologische und ökologische Fragen an. All die Innovationen hatten stets auch
massive soziale Konsequenzen. An einer Stelle in Jutta Czabauns Diplomarbeit heißt es
etwa:
>>Damals übliche Argumente
gegen Frauen am Rad reichten von dem abstoßenden Bild der schwitzenden Frau über die
skandalöse, obszöne Frau, die beim Radfahren, entgegen der damals üblichen
Kleidungsvorschriften, ihre Knöchel und somit sich selbst entblößte. [...] Trug die Rad
fahrende Frau Hosen oder hosenartige Kleidung wurde befürchtet, sie könne ihre dem Mann
untergeordnete Rolle aufgeben und selbständig werden.<<
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