next code: divan / session #1 (mirjana
selakov #2)
Wie können wir der Wirklichkeit des Anderen
begegnen?
Von Mirjana Peitler-Selakov
Wenn Das Andere nur außerhalb von uns selbst
wäre, es würde uns nicht so beunruhigen. Offensichtlich aber rührt die äußere
Begegnung mit dem Anderen an etwas in uns selbst. Es fragt nicht nur nach unserer
Identität, indem es eine Gegenidentität abbildet, es stellt all das Ungestillte in uns
selbst frei. Das Andere in uns ist das, was wir hätten leben können und nicht gelebt
haben. Es sind unsere Sehnsüchte, unsere nicht erfüllten Lieben, unser nicht
zugelassener Hass, all das, was wir normalerweise gut unter Verschluss halten.
Offensichtlich berührt uns die Thematik des Anderen in
einer Weise, die nicht nur mit dem Erleben von Fremdheit zusammenhängt, sondern tiefer in
uns ihren Ort hat. Das fremde Andere wird zur Bedrohung, weil es meine Lebensdeutung
infrage stellt, weil es andere Lebensdeutungen und Lebensstile mitbringt, weil es anders
aussieht und aufgrund seiner Exotik Attraktion hat.
Unsere Gegenwart ist alles andere als synchron. Vielmehr
muss man von bunt zusammengewürfelten Zeiten sprechen, die sich auf immer enger werdenden
Räumen begegnen. Da treffen diverse andere Kulturen mit ihren
unterschiedlichen Geschichten auf einander.
In der Installation aus Fotografien und transparenten
Bildern wandelt Renate Krammer die Existenz von Anderen zu einer eigenen
Situation des Entdeckens. Sie wendet die Konfrontation zwischen der fiktiven und der
sichtbaren Realität, um zu inszenieren. Diese Vermittlung durch einen klar
identifizierten Blick, den Blick dessen, der seine eigene Entdeckung erzählt, scheint
hier unausweichlich zu sein. Ob der Blick des Menschen hinter dem Glas oder des
Betrachters vor dem Glas, bleibt hier offen.
Martin Krusche zeigt in der Ausstellung eine Mischung aus
alten und neuen Werken, die aber alle Teil einer durchgehenden Erzählung sind. Dabei geht
es ihm nicht um das Neue oder Alte. Ihm geht es um die Tiefe, die
in einer Collage aus Fotografien, Texten und beweglichen Bilder sich zusammensetzt. Jedes
einzelnes Stück scheint alltäglich, banal zu sein, oft mit Witz versehen. Wie etwa die
alten Turnschuhe von Videokünstlerin Lena Lapschina, die in gleicher Augenhöhe ihrem
alten Traum, einem Paar Nike-Turnschuhe, begegnet.
Auch wenn die Teile dieser Ausstellung sehr unterschiedlich
sind, in der Suche nach den Verbindungen, die diese Werke von einem Betrachter verlangen,
kommen alle diese Erzählungen in einer Geschichte zusammen. Dabei bedient
sich Krusche immer derselben lyrischen Form, des Verhältnisses zwischen Existenz und
Künstler und der in diesen Werken verwendete Sprache, die den Sinn der Werke ausmachen;
die dann jenen Sinn erschaffen, der sich inmitten des äußeren Wechsels verbirgt.
Eines bleibt da unveränderlich: Schließlich graben alle
Gedichte nach der Tiefe, die sich zwischen unserer unmittelbaren Wirklichkeit und dem
Wesen des Menschen auftut, zwischen dem, was wir vor uns sehen (etwas wie die Oberfläche
der Wirklichkeit) und dem Wesen (der tieferen Bedeutung) des Menschen.
Es sind Personen, mit denen ich mich im
Laufe der vergangenen Jahre auseinandergesetzt habe. Mich interessiert nun diese
Individualität nicht mehr, in mir sind sie eins geworden, alle zusammen
Das schrieb mir Linda Maria Schwarz in einer Email, bei der
es um ihre Arbeit gegangen ist. Der Grundgedanke der Künstlerin ist die Erfahrung, dass
wir immer wieder fremden Menschen mit ihrer Andersartigkeit begegnen. Dabei blicken wir
mit unseren Erfahrungen und Bewertungen auf den Anderen. Glaubens- oder Lebenserwartungen
und die sichtbaren Äußerungen anderen messen wir mit unseren Maßstäben.
Sich das einzugestehen und den Menschen in seinem Kern als
gleich mir zu entdecken, kann als Inhalt ihrer Werke gelten. Die Wertschätzung des
anderen Menschen auf gleicher Augenhöhe. Ein wiederkehrendes Element in der Kunst von
Schwarz ist der Mensch, die Anatomie des menschlichen Antlitzes, als Schnittpunkt von
Privatem und Öffentlichem, als Merkmal individueller Identität. Gleichzeitig hilft es,
das Bekannte zu vertiefen.
Aber wenn ein Mensch anderen nie in Augenhöhe begegnet,
wie die Große und noch dazu fast antlitzlose Figur des Kartonmenschen von
Birgit Lichtenegger, steht da eine andere Wahrheit vor uns. Die Wahrheit der Anderen,
die Angst und die Bedrohung. Da ist die Arroganz des Großen und Mächtigen, der sich nie
beugen wollte, um etwas, das unter ihm steht, zu erfahren. Dem, der nie was
anders erfahren wollte, bleibt das Leben ewig etwas schuldig. Ihm bleiben andere Menschen
ewig etwas schuldig. So meint er jedenfalls. Und er beklagt sich ständig darüber. Auch
wenn er alt wird und sich langsam verabschiedet, sein Leben kann nicht in Ruhe und Friede
enden. Der alte Mann, ein Pupp von Elfi Scharf, steht an seines Lebens Ende
und wir fragen uns: Was für Leben hat er gelebt, wen hat er gekannt, was hat er erfahren?
Die Vielfalt des Anderen zu erfahren stellt aber eine klare
Bereicherung der eigenen Individualität dar. Kunst spricht in diesem Zusammenhang
gleichermaßen den Intellekt an wie das Gefühl, bezieht immer Stellung, sei es
ästhetisch oder politisch.
Interkulturalismus läßt sich am besten als eine
Perspektive des menschlichen Lebens verstehen, nicht als politische Doktrin oder
philosophische Theorie. Keine politische Strategie oder Ideologie kann die ganze Wahrheit
des Lebens beinhalten. Egal ob Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus oder
Nationalismus all das ist eine Vision und damit begrenzt, partiell. Das Leben ist
aber breiter als jede Vision, als jede Ideologie oder geschriebene Moral. Menschen machen
das Leben aus, mit ihren einfachen Geschichten über die Liebe, Freude, Trauer oder Angst.
So sind auch die Lieder vom Balkan, gesungen von Irina
Karamarkovic. In dieser Region klingt ein Liebeslied in allen Ohren wie das Epos der
Leiden, die jeder Einzelne durch das Leben auf dem Balkan erfahren hat. Die Trennung, das
Leben in der Fremde, das verlassene Haus, die verlorene Ernte. In einem gesagt: Die
schweren Zeiten, die auch eine wiederkehrendes Thema im Karamarkovic-Repertoire sind,
gehören genauso zum Register des Liebesliedes wie zur gemeinsamen Kultur, die zugleich
das Erbe der Region ist.
Im Klang dieser Lieder nimmt der Gesang der Sängerin einen
wichtigen Platz ein. Als rhythmisches Element, als Echo der Existenz der Anderen.
Mann kann sagen:
Diese Ausstellung überwindet die Grenzen. Doch wer Grenzen bewusst überschreiten will,
der muss sie kennen.
Anders formuliert:
Nur wo eine Grenze wirklich vorhanden ist und wahrgenommen wird, kann es ihre absichtliche
Überwindung geben.
[1] Europäische Union wird hier weiter auch als EU geschrieben
[2] Ist vom
englische Wort Mapping abgeleitet
+) Teil I:
"Wer ist wem die Zukunft?"
+) Mirjana Selakov: HOME
+) Texte zu "next code"
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