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Wer ist wem die Zukunft?
Von Mirjana Peitler-Selakov

In den meisten post-sozialistischen Ländern, die vom Westen als „Reformstaaten“ betrachtet werden, proklamieren demokratische Politiker, dass die Zukunft dieser Länder eng mit der Zukunft der Europäischen Union [1] verbunden sei. Manche Analyse gehen so weit, dass die „Europäische Zukunft“ als conditio sine qua non für das Überleben dieser Länder verstanden wird. Das heißt, dass die neuen Staaten nicht überleben können, ohne eine äußere, stärkere Entität, die innere oppositionelle Kräfte in diesen Ländern zu einander bringen werden. Die neuen Staaten haben meistens keine konkrete Vision ihrer Zukunft, so heißt es, also eignet sich die EU als perfekte Trägerin dieser Zukunftvorstellungen.

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Ich möchte betonen, dass ich die Abhängigkeit des Balkans von der Integration in die EU nicht in Abrede stelle. Aber möchte dabei in eine Gegenrichtung gehen und eine andere Abhängigkeit aufzeigen. Die Abhängigkeit der EU von der Notwendigkeit der Integration ganze Südosteuropas in einem eigenen Identitätssinn. Dabei möchte ich auch auf keinen Fall dem einen oder anderen Staat Südosteuropas eine besondere Rolle zuschreiben, ihm ein falsches Bild der eigenen Wichtigkeit geben. Ich möchte aber versuchen, das Subjekt – die EU – in seiner Abhängigkeit vom eigenen Objekt – Balkan, Südosteuropa – darzustellen. In der Manier, wie hegelianische Dialektik aus drei Teile besteht: These – Antithese – Synthese. So sehe ich im gleichen Schema auch die Konstellation Balkan – Südosteuropa – Europäische Union.

Im Kreieren einer europäischen Identität mit Hilfe des politischen Symbolismus spielt die „Kartografie“ [2] eine entscheidende Rolle. Auch wenn Europa seine Identität auf drei kulturhistorische Fundamente stellt – Antike, Christentum und Aufklärung –, hat die „Kartografie" stets eine Schlüsselrolle im Zeichnen von Grenzen zwischen Europa und „den Anderen“ gehabt. Durch diese Kartografie erwachsene mehrere Entitäten, die einander feindlich gegenüber stehen.

Die EU stützt ihre Identität auf das, was Europa erkennbar macht. Die EU ist der politische Träger der „europäischen Idee“. Das Hauptproblem bleibt dabei, dass die Selbstidentifikation über den „Anderen“ eigentlich ein politisches Projekt ist. Als solches ist der Inhalt immer änderbar bzw. kann „Remapped“ werden. Ohne auf die Beziehung „Europa – Andere“ näher einzugehen, möchte ich einige einander gegenüber stehende Kategorien auflisten, mit deren Hilfe Europa seine Identität gebaut hat:
Griechen – Barbaren
Rom – Byzanz
Katholizismus – Orthodoxie
Christentums – Islam
Europa – Osmanisches Reich
Okzident – Orient
Westeuropa – Osteuropa
Demokratie/Kapitalismus – Despotie/Kommunismus

Wie man sehen kann, haben diese Dichotomien manchmal kulturellen, manchmal religiösen oder ideologischen, auch ökonimischen Charakter. Aber in jeder Nennung ist die Beziehung „Wir zum Anderen“ präsent. Der „Andere“ hat nur die Funktion eines Objektes, über welches sich das Subjekt definiert. In dieser Logik hat der Balkan auch seinen Platz. Wenngleich er nicht die Rolle des klassischen „Anderen“ trägt, sondern für das Ablagern der negativen Erinnerung an die europäische Vergangenheit herhalten muß. Hier ist die Methode der „Wir und Ihr“-Rollenkonstruktion erkennbar.

Balkan als Europas Anderer

Einst hat sich die Identität des Subjektes auf die Selbsthinterfragung gegründet: „Cogito, ergo sum“. Heute hat Identität die Kategorie des „Andern“ in sich. Die Anderen sind ein Spiegel, in welchem sich ein umgedrehtes Abbild des Subjektes zeigt. Das westliche Europa hat eine Gewohnheit entwickelt, die Völker des Balkans für einen „Überschuss an Geschichte“ als schuldig zu betrachten. Dafür hat es seine eigene Geschichte vergessen. Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg seine ganzen hässlichen Anteile der Geschichte nach dem Osten verlagert, später dann auf den Balkan.

Balkan, dort sind „Die Anderen“. Balkan, das ist der umgekehrte Spiegel, in welchem (West-) Europa ein schönes Bild von sich selbst sehen möchte. Balkan, das ist das „üble Bild“ oder das Bild des „Üblen“ in westlicher Selbstwahrnehmung. Ähnlich wird Europa von Ceslav Milos gesehen. Nach ihm liegt der fundamentale Unterschied zwischen West- und Osteuropa im Unterschied zwischen Erinnerung und dem Fehlen von Erinnerung. Westeuropa hat seinen technologischen Fortschritt mit der geschichtlichen und kulturellen Amnesie bezahlt. Das „Ende der Geschichte“ galt als gekommen. Europa hat Angst, sich vor den Spiegel zu stellen. Wenn es den Balkan anblickt, sieht Europa, was es über hunderte Jahre selbst war.

Aber wenn „Balkan“ alles Hässliches ist, was Europa vergessen möchte, warum sollte die EU überhaupt den Balkan brauchen? Da die Balkanstaaten plötzlich zum Entsorgungsplatz der europäischen Geschichte geworden sind, lautet die Frage: Was werden die dort mit dieser Geschichte machen? Am leichtesten ist es, die Historie wegzulöschen und zu vergessen. Ist das möglich? Und falls ja, wie? Das ist der Moment in welchem der Begriff „Südosteuropa“ auf die Bühne kommt. Als politisches Projekt des Überganges jenes Balkans von einer „negativen Identitätsversion Europas“ in eine Teil Europas.

Der Name ist die Identität und Identifizierung ist das Benennen. Der Terminus Südosteuropa ist notwendig, weil die Termini Balkan und Europa (EU) unverbindlich sind. Europa ist heute das, was Balkan nicht ist und vice versa. Damit Balkan zum „richtigen“ Europa werden kann, soll er zuerst „debalkanisert“ werden. So muss man ihm seinen Namen wegnehmen. Der Balkan muss verschwinden, damit er amtlicher Teil Europas wird. Oder: Der Balkan muss sterben, damit ein neues Europa geboren wird.

Sterben des Balkans

In diesem Kontext ist es für die ganze Region wichtig, sich an das Entstehen der neuen Staaten zu erinnern, mit zum Teil neuen Namen (Ex-Jugoslawische Republik, Makedonien ...). Ein ähnlicher Prozess hat auch am 1. Mai 2004 stattgefunden. Acht mitteleuropäische Staaten wurden in die EU aufgenommen. Das Umbenennen ist aber schon vorher passiert. Nach der Ende des Kalten Krieges kam eine neue Entität ans Licht: Mitteleuropa. Es wurde als unzertrennlicher Teil des „richtigen“ Westeuropas definiert, der wieder an den Platz zurückgekehrt sei, an den er immer gehört habe.

Dem war ein großes kulturelles Projekt vorangestellt, welches durch Intellektuelle wie Ceslav Milos, Milan Kundera oder Vaclav Havel durchgeführt wurde. Interessant ist dabei, dass diese Entität bald zum Bestandteil Westeuropas erklärt wurde. Wobei aber, wie das manche ironisieren, alle „Dichter und Denker“ aufgenommen wurden und die „Richter und Henker“ im Osten geblieben sind.

Mit dem Balkan passierte etwas Ähnliches. Für die Zukunft Europas diese Vergangenheit hatte sterben müssen. Damit wir aufwachen können in eine andere Welt, in der Welt des Dialogs und eine bessere Zukunft.


[1] Europäische Union wird hier weiter auch als EU geschrieben
[2] Ist vom englische Wort „Mapping“ abgeleitet

+) Teil II: "Wie können wir der Wirklichkeit des Anderen begegnen?"
+) Mirjana Selakov: HOME
+) Texte zu "next code"

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