next code: break / notiz #5

Für manche von uns hieß früh ins Leben hinaus zu gehen, der Welt mit sehr romantischen Vorstellungen zu begegnen. Das ist gut so, denn das Romantische macht uns mutig und verletzlich.

Den Mut brauchen wir, um die Verletztlichkeit zu ertragen. Die Verletztlichkeit brauchen wir aber, damit das Leben gelingt.

Das ist nicht bloß metaphorisch gemeint. Denn wie ein Leben sich in Lebendigkeit ausdrückt, besteht eine unerbittliche Bedingung in diesem Leib, der uns Anwesenheit auf Erden ermöglicht. In dieser Bedingung, der Leiblichkeit, sind wir äußerst angreifbar. Es können uns alle Arten von Wunden geschlagen werden, körperliche und seelische; der Leib erzählt davon mit Schmerz.

Zum Glück müssen nicht alle, nur manche Menschen ausloten, wie weit diese Versehrbarkeit reichen kann und wie tief die daraus resultierende Peinigung zu gehen vermag. So zeigt sich dann auch der Schrecken darüber, wenn man derlei Erfahrungen macht: Tief und weit.

Wer solche Momente kennt, braucht keine Erklärungen, denn der Verstand weiß es, die Seele weiß es, sogar das Fleisch gewinnt ein Wissen daraus und merkt es sich. Wer ohne solche Erfahrungen ist, vermag den Erklärungen nichts entnehmen. Wir können uns also nur über die Rahmenbedingungen solcher Lebensbereiche verständigen, der Rest bleibt den individuellen Erfahrungen überlassen.

Manche von uns kennen diese Nischen, waren dort, wissen deshalb von diesen Dingen. Den Schmerz fürchten wir zurecht, doch das Leben ist auch in ihm geborgen und wertvoll. Es herrscht eine Prüderie in der Befassung mit diesen Fragen. Es besteht ein grober kultureller Mangel darin, diesen Themen und Erlebnissen Platz zu geben, uns damit vertraut zu machen, was auf uns zukommt, falls solche Wege zu gehen sind.

So liegt ein Geschenk darin, wenn man jemandem nahe sein darf, sobald ein letzter Weg begonnen hat. Ein Geschenk, das allerdings von vielen ausgeschlagen wird. Denn im Unausweichlichen, im Unabwendbaren, im Unumkehrbaren bricht eine Radikalität der Herzen auf, die jedem Täuschungsversuch und jeder Beschwichtigung spottet.

Es ist romantisch, weil es sich dem Alltäglichen völlig entzieht. Es rührt an unseren Mut und unsere Verletztlichkeit. Es gehört zu den Hauptereignissen eines gelingenden Lebens.

Was ein wenig in Vergessenheit geraten ist, was wir gegenwärtig kulturell zwar ganz offensichtlich verspielt, aber keineswegs endgültig verloren haben, ist als Vorstellung von Vollendung in unserer Kultur schon Jahrhunderte Bestandteil der Idee einer „Ars moriendi“, einer „Kunst des Sterbens“. Ohne sie ist eine „Ars vivendi“, eine „Kunst zu leben“, eigentlich nicht vorstellbar.

Diese Idee einer „Kunst des Sterbens“ handelt davon, daß man eine Verfassung, einen Zustand erreichen kann, wo man fähig wird zu sagen: „Es darf enden.“

Darin liegt das Geschenk. Daß wir manchmal einem Menschen nahe sind, der genau diesen Punkt erreicht und einlöst. Es enthält eine der stärksten Ermutigungen für das Leben, die ich mir überhaupt denken kann.

Martin Krusche

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24•08