the long distance howl / ncv / seite #23

Fernbefunde und billige Ratschläge

Wir rudern durch einen Strom von Unwägbarkeiten gleich einer Wildwasserfahrt von unbekannter Länge. Wer jetzt als Freelancer in der Kunst lebt, erfährt neue Dimensionen des Arbeitens auf Risiko. Was immer uns einfallen mag, was immer wir begonnen haben, es kann schon im nächsten Schritt gegen eine Barriere krachen und enden.

„aber wie hat gestern jemand über mich geschrieben?“ Oliver Mally braucht kein Berater zu bezahlen, er bekommt in den Social Media kostenlost Rat. Jüngst diesen Telebefund, den die Krankenkasse nicht bezahlt: „sie sind geldgetrieben - starmania orientiert und egozentrisch“.



Sir Oliver Mally bei der Pressekonferenz im November

Das ist eine seltsam spießerhafte Vorstellung vom Dasein und Beruf eines Musikers, der auf einem Markt ohne Garantien existiert. Ich weiß natürlich schon seit Jahrzehnten, warum Menschen in bürgerlichen Verhältnissen uns Kunstschaffende so gerne als glänzende Beispiele der moralischen Integrität in Anspruch nehmen würden.

Das soll sie über Momente der Mutlosigkeit und auch der Korruption hinwegtrösten. Darum stammeln sie so gerne von „Wahrer Kunst“ und „Wahren Werten“ herum, ohne genau auf den Punkt zu kommen, außer uns freischaffenden Künstlern gelegentlich auszurichten, was sich gehöre und wie wir uns geben sollten.

Wir haben da eine neue Bourgeoisie am Hacken, die sich lieber an Leuten wie uns abarbeitet, statt sich um ihre Lebens- und Arbeitssituationen selbst zu kümmern und dort die Hebel anzusetzen. Ich hab so eine Situation grade in meinem Logbuch beschrieben, da eine Angestellte mir ankreidet, daß ich mich pro Maskenpflicht äußere, aber wohl nicht – wie sie – die Maske jeden Arbeitstag zehn Stunden lang tragen muß: [Link]


...und haben wir Dissens, wechselt er seine Argumente zur Sache gleich gegen Argumente zur Person. Ein schäbiger Trick, den wir seit der Antike kennen.

Hat sie das mit ihrem Boss debattiert? Schließt sie sich der Gewerkschaft und würde sie mit ihren Leuten um Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen? Ich finde darauf keinen Hinweis. Aber bei uns Freelancers stehen die Angestellten auf der Matte als wären wir Beamte des Zentralbüros für Ethos und Genügsamkeit.

Ich hab heuer schon ein paar sehr kuriose Anfechtungen aus Kreisen dieser neuen Bourgeoisie zugestellt bekommen. Beschimpfungen, die mir meine Haltung quittieren, wie sie sich aus meiner Existenz als Freischaffender ergibt.

Darunter übrigens ein Klassiker: der alternde Lehrer mit seiner Gitarre und seinem Hang zum Blues, wie er sich sein Dasein schönredet, da er den Schritt in ein Künstlerleben nie gewagt hat. Ein mäßig talentierter Barde, der uns aus seiner Spießer-Existenz heraus Ratschläge erteilt, Zensuren schickt und mit seinen Kumpeln so manches Konzert-Budget abräumt, weil seine Lehrerkollegen vielerorts als Kulturreferenten den Fokus längst auf Citymanagement und Konsumation verschoben haben.



Wieder einmal orkalen Kleinbürger, denen unser Metier schon ewig wurscht ist, ahnungslos an unseren Modi herum.

Was die Pandemie bewirkt, ist unter anderem eine Schärfung der Kontraste. da wird allerhand sichtbarer als es vorher war. Die wohlfeilen Rufe nach Solidarität eines ganzen Berufsstandes können nicht ersetzen, was der individuelle Kontakt leistet, der sich auf konkretes Interesse stützt.

Kooperation braucht gute Gründe und basiert auf gemeinsamen Interessen plus Leistungsaustausch. Wie kommt es dazu? Mein Modus sieht so aus: Wenn ich mit jemandem ein geteiltes Interesse an konkreten Themen feststelle, können wir erörtern, ob sich daraus für uns beide ein Arbeitsvorhaben ableiten ließe, für das wir kooperieren möchten.

Es kommt aber auch vor, daß jemand etwas tut, von dem ich sehr angetan bin, worauf ich diesem Tune eine Zeitlang aus freien Stücken zuarbeite, um es zu verstärken. Meine Kompetenzen und meine Arbeitszeit kann ich also auch für immaterielle Güter eintauschen. Ich denke nicht, daß sich solche Modi institutionalisieren lassen.

-- [Groove] [Bourgeoisie] --


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