13. November 2020

Whataboutism

Mit dem Begriff Whataboutism wird eine Pose bezeichnet, die einen auf eine Information mit einem „Ja aber!“ reagieren läßt, weil man ein anderes Thema, das man für wichtig hält, vermißt. Man könnte freilich selbst ein Statement zum vermißten Thema vorlegen, doch man deponiert lieber ein „What about…!“ Was ist nun mit dem vermißten Thema?

Mein Masken-Statement vom 10. November, eine Facebook-Notiz, hat online und back stage einige interessante Reaktionen gebracht. Ich hatte wenigstens drei Themen angerissen, die mir einer Debatte wert schienen.

1) ICH bin derzeit lieber vorsichtig, stoß mich nicht an der maskenpflicht.
2) man kann zwar allein gefangen, aber nicht allein frei sein.
3) es ist wie mit dem GEHEN ÜBERS EIS. du kannst nicht immer wissen, ob die ganze fläche trägt und ob sie stellenweise so dünn ist, daß wer einbricht und verreckt.

Dabei mochte klar sein, daß ich für mich und meine Situation gesprochen hab. Bäuerin Carmen D. Dreier-Zwetti meinte: „übers eis gehen funktioniert nur solange relativ sicher, wenn man zu mehrt ist. und - originellerweise - ein bissl abstand hält. so kann man sicher sein, wenn einer einbricht, weit genug entfernt zu sein um nicht mitgezogen zu werden, aber nah genug um zu helfen.“

Das Thema Freiheit konnte kommentarlos stehenbleiben. Allerdings stieß sich Andrea H. einigermaßen energisch daran, daß ich mich für die Maskenpflicht ausspreche, obwohl ich offenkundig nicht sehr oft eine tragen muß, während sie betonte: „Ich habe Arbeitstage bis 10 1/2 h, halbe Stunde Pause ... Die Maske ist stickig, es ist heiss darunter, Kopfweh, usw ...

Mein Hinweis, ihr Modus sei eben – berufsbedingt – ein anderer als meiner, verfing nicht. H. meinte: „Mir fällt nur auf, die hehren Masken-Befürworter sind selten unter jenen zu finden, die sie einen ganzen Tag tragen müssen.“ Whataboutism! Ist das Wasser naß? Ist der Papst katholisch?

Ich hab gestern beim Einkaufen in der Feinkostabteilung nachgefragt und von zwei Angestellten Auskunft erhalten. Ja, sie müssen die Masken während der gesamten Arbeitszeit tragen. Nein, es gibt nur die übliche kurze Pause und keinen anderen Modus, der einem dieser Maskenpflicht erleichtern würde.

Wer wollte bestreiten, daß das belastend ist und damit allein schon der eigenen Gesundheit zusetzt, unabhängig vom möglichen Virenkontakt? Fraglos eine Erschwernis.

Andrea H. erzählte nun nicht, sie habe mit ihrem Boss ein ernstes Wort gesprochen oder in ihrem Team vorgeschlagen, man solle mit der Gewerkschaft reden, um an dem belastenden Modus etwas zu ändern. Das wäre ja – statt mir – die relevante Adresse für ihren Unmut.

Sie schrieb: „Ich hab mich an ‚wenn ich rausgeh, zieh ich das jetzt durch‘ gestossen ... Klingt ja sehr tapfer und heroisch, ich wollte nur mal wissen, wie lange das durchziehen denn in (d)einem Fall ist. Für eine kurze Zeit ist das echt keine Kunst.“

Niemand bestreitet die Vorteile meiner Situation im Lockdown, daß ich mein eigener Boss bin, den Arbeitsplatz zu Hause hab (40 Jahre Home Office) und deshalb selbst bestimmen kann, wie oft ich unter Leute gehe, wie lange ich in Situationen verweile, die der Maskenpflicht unterliegen.

Ich nutze einen Rucksack um Vorräte zu kaufen und kann das auf ein, zwei Gänge pro Woche beschränken, wenn ich sonst keinen Grund zulasse, unter Menschen zu sein. Falls ich es will, trage ich die Maske daher keine zwei Stunden pro Woche. Dagegen sind zehn Stunden Arbeitstag unter Maskenpflicht eine sehr harte Tour.

Aber würde Andrea H. meinen Preis für meinen Maskenmodus bezahlen wollen? Was lukriert sie im Vergleich zu mir, da sie die 40 Stunden oder mehr Maskentragen pro Woche absolviert?
+) Ein vorausberechenbares Jahreseinkommen,
+) gesicherter Krankenstand, falls was schiefgeht,
+) plus bezahlten Urlaub zur Erholung.

Hab ich alles nicht, dafür einen Selbstbehalt bei der Krankenkasse.

+) Arbeitsplatz und Betriebsmittel werden vom Arbeitgeber gestellt.
(Bezahle ich selbst.)
+) Arbeitgeberanteil bei Steuer und Sozialversicherung entlasten ihr „brutto für netto“, entfällt bei mir, dafür darf ich jedes Jahr ein Stück Einkommenssteuer vorauszahlen.
+) Kippt die Marktsituation, müßte sie erst entlassen werden und könnte eventuell arbeitsrechtlich dagegen vorgehen, hätte außerdem Anspruch auf Arbeitslosengeld, während ich sofort pleite bin, wenn ein Projektpartner sagt: „Tut mir leid, das Projekt entfällt.“ (Arbeitslosengeld? Lustig!)

Dazu kommt, daß Andrea H. selbst auf mehrmaliges Nachfragen nicht verraten wollte, welchen Beruf sie ausübt. Da er auf zehn Stunden pro Tag kommt, dürfte er als „systemrelevant“ gelten, was man uns Kunstschaffenden nicht zubilligt.

Fazit: Oh! Überraschung! Es gibt ganz verschiedene Berufe, die zur Pandemie sehr unterschiedliche Modi auferlegt bekommen. (Möchte wirklich jemand seinen Job mit meinem tauschen?)

Post Scriptum
In Österreich mit seinem Volk von Angestellten herrscht wenig Kenntnis davon, daß über 90 von 100 Prozent der heimischen Betriebe KMU sind, also Klein- und Mittelbetriebe. An die 60 von 100 Prozent der heimischen Betriebe sind EPU, „Ein-Personen-Unternehmen“, also Betriebe, die von ein bis zwei Personen realisiert werden. Ich verstehe natürlich, daß Angestellte andere Sorgen haben als Unternehmer…

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