28. November 2022

Enzyklopädisches


Ich finde es rührend, wenn sich Menschen in einem heroischen Akt der Selbstreflexion aufraffen, um uns alle via Social Media wissen zu lassen, daß sie Social Media Scheiße finden. Die Mitteilung taugt wenig, aber sagen wir doch einfach: der gute Wille zählt.

Noch rührender finde ich jene, die allerdings seltener vorkommen, von denen ich erfahre, daß sie Social Media Scheiße finden und deshalb ihren Account löschen werden. Muß ich nicht wissen, aber ich verstehe, was die Geste meint.

Natürlich hat das Genre mit seinen Medienkanälen allerhand Schwächen. Oder ist es umgekehrt? Vielleicht habe ich Schwächen, mit denen ich manchen Gebräuchen nicht gewachsen bin. (Motto: „Wenn du es nicht verstehst, bist du dafür zu doof.“) Zum Beispiel Bildgalerien mit 50, 70 oder 144 Bildern, manchmal sogar 200. Nein, ich klicke mich nicht einmal durch 30 Bilder. Sie etwa? Nach meist ungefähr 15 Bildern hab ich die Nase voll, zumal derlei Sammlungen gewöhnlich ohne weitere Informationen auskommen. Sie besagen dann bloß: „Ich war dort und ich war fleißig!“



(So weiß waren unsere Urväter?)

Oder ist das die aktualisierte Form der Armenbibel? Viele Bildchen für Leute, die nicht lesen können? Das muß der Grund sein, weshalb ich selbst beim Kulturvölkchen andauernd auf Fotoserien stoße, die zeigen mir durchaus interessante Personen und Dinge, auch interessante Situationen oder Gebäude. Aber es steht nicht dabei, wer oder was es ist. Um es zeitgemäß auszudrücken: Das nützt mir Nüsse!

Die schweigsame Enzyklopädie

Ich hab ein Faible für ungewöhnliche Autos. Ich bin ein Car Spotter; oder um es kontinental auszudrücken: ein Automobilpaparazzo. Nun finde ich via Social Media oft Fotoserien, da werde ich ganz unruhig, so schön sind etliche der gezeigten Raritäten, die man sonst kaum wo zu sehen bekommt. Aber was zur Hölle sehe ich? Steht nicht dabei. Also hab ich nichts dazugelernt und das Bilderschauen nutzt mir... Genau! Nüsse!



(Natürlich kann man jederzeit verblöden!)

Langsam dämmert mir freilich, was das soll. Es ist Medienkompetenz in galoppierender Komplexitätsreduktion, um die Welt in ihrer Fülle an interessanten Dingen zu ertragen. Die schweigsame Enzyklopädie hilft mir beim Sparen von Hirnschmalz. Bloß nicht zu tief in die Themen! Für die allfällige Sinnstiftung haben wir eine Flut von Memes mit klugen Sprüchen. Die Kalenderblätter von einst sind längst wieder da, nun nicht papieren, sondern elektronisch. Fazit: Ich war da! Das muß genügen. Der Rest: Dekoration. Leichtfraktion. Handlicher Ballast.

Der historische Held solcher Modi ist ein Wiener Hofkammer-Beamter namens Joseph Kyselak, einstmals tätig in der k. k. Privat-, Familien- und Avitikalfondskassenoberdirektion. Er war ein begeisterter Alpinist, legte allerhand Reisebeschreibungen vor. Kyselak liebte es, besuchte Orte mit einem Zeichen seiner Anwesenheit zu markieren. Der Legende nach bestand die Markierung aus dem Sätzchen „Kyselak war hier!“ Das ist ein boomendes Glanzereignis aktueller Medienkompetenz. „Ich war hier!“ „ich war dort!“ „Ich!“ Kein Einwand! Alltagsbewältigung ist nichts für Phantasielose.

+) Netzkultur

Postskriptum
Nun mußte ich noch herausfinden, was denn ein Avitikalfonds ist. Damit hab ich nun einige zeit verplempert und bin entzückt, was dabei zu erfahren war. Unter anderem kuriose Details im Zusammenhang mit dem „hofärarisches Vermögen“, das ja auch kein gar so populärer Begriff ist. Mehr dazu auf der Seite #2!

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