23. August 2022
Spießer-Kultur und kulturelle Aneignung I
Ein Herrenmensch, ein Rassist, ein Konquistador geht seinen
Geschäften nach, indem er Machtmittel nutzt, um auf das
Verhalten und die Ressourcen anderer Menschen zuzugreifen.
Eurozentrismus und ähnlicher Kram, um seine
Definitionshoheit als Hegemonie aufzubauen und zu festigen,
also eine Herrschaft über das Denken von Menschen, braucht
Intentionen, Strategien, Methoden und Mittel. (Ob man derlei
einer weißhäutigen Reggae-Band nachweisen kann, bezweifle
ich stark.)
Laufe ich zufällig in einen Agenten der
Blödheit hinein, weiß ich längst: ein Lächeln schenken,
notfalls die Hand schütteln, freundlich verabschieden. Das
gebieten die guten Sitten. Ich brauche mit so einem Herzchen
nicht diskutieren.
Die enge Weltsicht, die eventuell brüllende Borniertheit,
das komplette Paket des Angstbeißers ist ungefähr das, was
eine Schwimmweste für den Touristen ist, der im schweren
Wetter versehentlich über Bord gegangen ist. Er möchte ja
nicht absaufen, bis Rettung naht; falls es Rettung gibt. Wer
wird sich davon nicht lösen wollen.
Bei der
Amtseinführung von US Präsident Joe Biden wurde mir die
schwarze Lyrikerin Amanda Gorman ein Begriff. Kurze Zeit
später mußte sich eine weiße Übersetzerin vorhalten lassen,
sie sei nicht qualifiziert, Gormans Gedichte in einer
anderen Sprache erfahrbar zu machen.
Da hat jemand
der Literatur, also dem Text, also kodifizierter Sprache,
einige Eigenschaften angedichtet, für die ich keine Belege
kenne. Gibt es denn solche Eigenschaften, die nach Schutz
schreien? Nämlich etwas genuin Ethnisches, das
verschriftlicht werden könnte. Und zwar so, daß es nur dank
der nämlichen ethnischen Lebenserfahrung a) kodifiziert und
b) entschlüsselt, ergo c) verstanden werden kann? Nein. Das
ist magisches Denken.
Außerdem müßte das dann in die andere Richtung ebenso
wirken. Demnach wären mir als Rezipient die Werke von James
Baldwin, Toni Morrison, Ken Saro Wiwa oder Alice Walker
ebenso nutzlos, wie jene von Ryunosuke Akutagawa oder Lu
Xun. Isaac Bashevis Singer? Primo Levi? Ismael Kadare?
Dostojewski? Weg damit! Ich alter weißer Mann,
westlich-katholisch-nationalsozialistisch geprägt, würde ja
schon bei Ivo Andric ins Leere laufen, selbst wenn mich die
Texte berühren.
Und wozu höre ich mir gerne
Sevdalinke an? Kapier ich sowieso nicht. Also weiter mit der
Bereinigung unserer Kultur! Runter von der Bühne mit diesem
White Trash, diesen Dread Locks tragenden und Reggae
fiedelnden Konquistatoren-Söhnen! (Wenigstens macht hier
niemand mit Umm Kulthum herum.) Schluß mit all der
entarteten Kunst! Reinheit des Geistes! Reinheit der Formen!
Reinheit der Codes!
Ja, Sie haben schon richtig
gelesen: entarteten Kunst. Im Kontrast zum „Wahren“, welche
das Schöne sei. Reden wir daher kurz über Rassismus. Wenn
ich einem Gegenüber aufgrund biologischer Merkmale bestimmte
soziale und kulturelle Eigenschaften zuschreibe oder
abspreche, dann ist das ein rassistischer Akt. Natürlich
wird das ebenso schon eine Ewigkeit und drei Tage auch auf
soziale Kategorien umgelegt, das Soziale gerne biologisiert.
Wir unterscheiden üblicherweise Bios, Ethnos und Demos
als grundverschiedene Kategorien. Wir kennen Merkmale, über
die man eine Gruppe adressieren kann. Wenn aber wer auch
immer behauptet, eine „Kalkleiste“, ein „Weißbrot“ dürfe
keinen Reggae spielen, dann haben wir Klärungsbedarf;
nämlich darüber, was Kultur ist und kann, wie künstlerische
Genres funktionieren, was man in Codes packen und über Codes
kommunizieren kann, was andrerseits damit zu transportieren
nicht möglich ist. [Fortsetzung]
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Kulturpolitik +)
Aneignung
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