16. Juni 2022

Verdun 2.0

Womit hab ich es zu tun? Was geht mich all das an? Die Berichte verzahnen sich mit alten Bildern. Blutiger Abwehrkampf unter Trommelfeuer. Millionenstadt Donezk unter Dauerfeuer. Die unter Dauerfeuer stehenden Regionen Lugansk und Donezk. Dauerfeuer auf Sjewjerodonezk. Trotz Trommelfeuer und Feuerwalzen. Dauerfeuer hindert Menschen an Flucht aus Kriegsgebiet. Der Krieg aus dem vorigen Jahrhundert ist wieder da.

Ich lese, im Donbass würden die Geschütze der russischen Artillerie zu jenen der ukrainischen in einem Verhältnis 10:1 stehen. Dauerfeuer den Großteil des Tages. Wie verschiedene Kommentare besagen: Die machen alles platt. Trommelfeuer. Das bedeutet, statt den Punktzielen werden Flächenziele angegriffen.


Dabei ist von einer Feuerkraft die Rede, für die wir aus einem zivilen Leben keinerlei Vergleiche kennen. Die Menschheit hat das im Großen Krieg erstmals realisiert. Der Ortsname Verdun steht stellvertretend für eine Barbarei, die den Rahmen unserer Begriff sprengt. Ich muß das dennoch einsortieren können.

Im Ersten Weltkrieg zeigte sich an Überlebenden ein Phänomen, das „Shell Shock“ genannt wird. Eine tiefe Traumatisierung. Eine Verstörung von Menschen, die dadurch in ihrer Lebensfähigkeit massiv beeinträchtigt wurden, weil sich das überdies körperlich äußerte.

Im Web finden Sie unter Stichworten wie „War Neuroses“ oder „Shell Shock Victim“ hinreichend anschauliches Material. Weshalb ich das erzähle? Ich bin mit anderen Leuten gerade eine Weile am Thema Josef Beuys dran. Der war ein Künstler von Weltrang, zugleich eine brüchige Persönlichkeit mit äußerst merkwürdigen Seiten.


Das wurzelt in seiner Vorgeschichte, in den Kriegswirren und seinen seltsamen Rollen während jener Jahre, die er zu verbergen wußte. Diese Doppelbödigkeit hat wiederum ideologische und mentalitätsgeschichtliche Quellen im Ersten Weltkrieg.

Was bewirkt ein derart technisierter Krieg an den Menschen? Ich wurde in den 1970er Jahren zum Richtkanonier an einem Salvengeschütz ausgebildet. Entsprechend neugierig war ich damals auf das Scharfschießen.

Es ist mir nicht erinnerlich, daß in Allentsteig je mehrere Verbände zugleich gefeuert hätten, sehr wohl aber eine ganze Batterie. Es war ziemlich beeindruckend, was ein Werfer bewirken konnte, wenn man an der Leine zog.

Als Funker hab ich später auch die Aufgabe eines Artilleriebeobachters gehabt, folglich gesehen, welche Einschläge so eine Waffe erzeugt. Das ist aber geradezu nichts im Vergleich zu einem ganztägigen Dauerbeschuß wie im Donbass.

Geschichtsbetrachtung, Kunstpraxis, diese aktuellen Zusammenhänge, all das wirft für mich Fragen auf, welche Arten der persönlichen Verstrickung sich daraus ergeben und was das für mein Leben, für meine Arbeit und für unsere Projekte bedeutet. Siehe dazu auch: "Wir beuyseln!" (Der Ernst des Lebens und was sonst noch so auf dem Programm steht) [Fortsetzung]


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