1. Dezember 2021
Spannungsabfuhr
Wenn mein Vater, der alte
Sturschädel, über den Zustand der Welt zu seufzten hatte,
sagte er gerne: „90 Prozent der Menschheit sind sowieso
Idioten.“ Das ist eine völlig wertlose Aussage, aber
wertfrei ist sie nicht. Man könnte sagen: der Klassiker.
Selbstdefinition durch Feindmarkierung.
Ich mach es
lieber so, ich sage gerne: „Wo ich bin, ist vorne.“ Für
diese Eitelkeit muß man andere nicht runterputzen. Derzeit
wird gerne runtergeputzt. Auch in meiner nächsten Umgebung.
Hier bekommt ein Bundepolitiker via Facebook noch schnell
ein „Arschgesicht!“ zugerufen, da und dort plätschern Tag
für Tag andere Artigkeiten ohne jede Aussagekraft.
Ein landesweites Festival der Spannungsabfuhr.
Europameisterschaften im infantilen Verhalten. Die ganze
(Medien-) Welt eine einzige Bassena. Ich bin beeindruckt!
Zum Glück wird erwachsenen Menschen für so ein kindisches
Verhalten nicht gleich der Führerschein gezupft, sonst würde
die alle daheim hocken und ihre Verwandten in den Wahnsinn
treiben. (Beratungsstellen und therapeutisches Personal
haben ja jetzt schon kaum mehr freie Ressourcen.)
Aber, ach! Wozu sich beherrschen? Was raus muß, muß raus.
Das blöde an diesen Formen der Spannungsabfuhr: sowas hat
erhebliche Konsequenzen. Von der Nazizeit müßten wir
Nachgeborenen ja nichts wissen. Aber vom Untergang
Jugoslawiens können wir alles wissen. Ruanda! Das war auch
nicht gerade dürftig!
Ich meine die Dynamik der
Brutalisierung einer Gesellschaft. Darin gibt es
Quantensprünge. Vom Ende her betrachtet, darum hab ich
Jugoslawien als Beispiel erwähnt, vom Ende her betrachtet
geht jedem Massaker ein Krieg der Worte voraus.
Menschenverachtung rüstet die Sprache hoch, nutzt
Massenmedien. Ruanda oder Republika Srpska, völlig egal,
überall die gleichen Muster.
Erst wird der Mitmensch
zum Gegenmenschen umgedeutet, dann irgendwann als
Nichtmensch deklariert. Darin dämmert schließlich die Stunde
der Schlächter. Ende Juli hatte ich mir das erneut näher
angesehen. Jasmila Žbanić befaßte sich mit dem Srebrenica
des Juli 1995: „Quo
Vadis, Aida?“, so der Titel ihres Filmes. Siehe dazu
meine Notiz: „Karremans
Zigarette“!
Machen Sie sich nichts vor! Wer sich
aktuell derlei Schimpftiraden gönnt, stärkt ein Klima der
Menschenverachtung. Das setzt unserem Gemeinwesen heute
schon schwer zu. Betrachten wir die banalen Verlaufsmuster,
sehen wir, wo das hinweist.
Das Problem an solchen
Prozessen ist die schon erwähnte Dynamik. Wir mögen uns
heute noch sicher fühlen, daß sich dieses infantile Austoben
an Mitmenschen in Grenzen halten wird. Dabei wissen wir
längst, daß solche Kräftespiele einen Kipppunkt haben,
hinter den schließlich nichts mehr zurückführt. Dann bricht
die Nacht der langen Messer an.
Seit uns Gustave Le
Bon über die „Psychologie der Massen“ (1895) nachdenken ließ
oder Elias Canetti über „Masse und Macht“ (1960), ist zu
diesen Themen viel geforscht und publiziert worden. Wir sind
in eben diesen unruhigen Zeiten mit der Seuche mehr als
sonst gefordert, sprachlich abzurüsten und der
Menschenverachtung kein Futter zu geben.
Wir waren es
davor schon, als wir zirka ab 2015 nicht mehr übersehen
konnten, daß Europa in den aktuellen Flüchtlingsbewegungen
keine adäquaten Strategien hat und die Elenden als
Manövriermasse innenpolitischer Wortgefechte herhalten
mußten. Bedaure! Aber wer an solchen Formen der
Spannungsabfuhr festhält und diesen Krieg der Worte
mitträgt, kann nicht mein Freund sein.
+)
Kontext Covid-19
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