30. Juli 2021

Karremans Zigarette

Wenn sich die Sommerhitze tief in meinem Büro unterm Dach eingenistet hat und ein guter Teil meiner Arbeit erledigt ist, mach ich ganz gerne Abstecher in mein Lesezimmer. Das ist eine kleine Parkanlage zwischen Gemeindezentrum und Musikschule vor dem alten Kloster. Da gibt es eine Bank unter Büschen, auf der jeder heiße Tag erträglich ist.


Ich hatte eben mit Fragen über das Essen der Leute in der alten agrarischen Welt zu tun, dieses ewige Hungern. Siehe dazu:Hier herinnen vergesse ich die Zeit (Der Handwerker Alois Pfundner) Das war ein Anlaß, die fulminante Tito-Biographie von Marie-Janine Calic aus dem Regal zu nehmen.

Darin sind auch seine Kindertage als Keuschlerbub im kroatischen Zagorje gut beschrieben. „Maisbrot, Maisgrütze sowie Gerichte aus Kartoffeln, Kohl, Saubohnen, Linsen oder Rüben, frisches Obst aß man nur im Sommer…“ Das klingt doch sehr vertraut.

Titos Leute, die Familie Broz, verfügten über rund 4,5 Hektar Grund. Das ist die Untergrenze dessen, was in der Oststeiermark als kleine Wirtschaft galt. Größen von sechs bis elf Hektar waren vielfach alles, was sich erreichen ließ. Die Erbfolge warf immer ökonomische Probleme auf. Egal, wie tüchtig Leute waren, auf solchem Boden konnte kein Wohlstand entstehen. Dafür reichte der Ertrag niemals.


Dem gehe ich bei unseren Leute gerade nach. Die sprunghafte Technisierung der Wirtschaft und die Volksmotorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg schufen eine Menge Arbeitsplätze für talentierte Leute, die endlich gutes Geld verdienten, woraus auch entsprechende Kaufkraft entsprang, von der die Wirtschaft Schübe bezog.

Es ist eigentlich unfaßbar, wenn man sich näher ansieht, welche Sprünge dieses Land in wenigen Jahrzehnten machen konnte, was den Wohlstand für sehr große Teile der Bevölkerung angeht. Wenn ich vergleiche, wie ich mein Brot verdienen kann und was das eben noch an Arbeit verlangt hat, um nicht Not zu leiden…

Dann Schubertkino in Graz. Dieser unerbittlich präzise Film von Jasmila Žbanić. „Quo Vadis, Aida?“ Srebrenica. Juli 1995. Man mag über das Massaker an bosnischen Männern nachdenken, begangen von einer serbischen Soldateska unter Ratko Mladic. Das muß ja klar sein: Kombattanten, die über unbewaffnete Zivilisten herfallen, können nicht Soldaten genannt werden. Das sind Mörder außerhalb aller Konventionen.

Aber es ist eben auch die Schande Europas, denn wir saßen auf unseren Sofas, während Warlord Mladic seine Mörderbande in das schmale Tal führte. Europa hätte alles an Verbänden und nötigen Waffen gehabt, um diese Soldateska aus der Schutzzone draußen zu halten. Schutzzone!

Ich kenne bis heute keine nachvollziehbare Erklärung, warum das unterblieben ist. Diese Momente haben mich über Jahre beschäftigt, weil Videomaterial davon verbreitet wurde. Ich war so verblüfft, wie sehr Mladic Thomas Karremans, den Dutchbat III-Kommandeur, einschüchtern konnte.

Da ist diese unglaubliche Sequenz, auf die Žbanić im Film allerdings verzichtet hat; als Mladic dem Karremans eine Zigarette anbot und dazu sagte: „Nehmen Sie eine. Sorgen Sie sich nicht, es wird nicht Ihre letzte sein.“ Er muß in seinem Sendungsbewußtsein und seinem demonstrativen Haß auf die Bosniaken so sicher gewesen ein, daß ihm Europa nichts anhaben könne. (Siehe dazu eine Notiz vom 7. Jänner 2009! (Wir sollten genau beachten, auf welchen Wegen sich solche Männer emotional entwickeln. Sonst. endet das nie.)


[Kalender] [Reset]