22. November 2021

Der vierte Lockwown

Mit diesem Tag geht Österreich in den vierten Lockdown. Das wurde unter meinen Fenstern gestern von einem Zug lebhafter Menschen eingeläutet. Ich hatte das Trommelschlagen gehört und war vom Ausmaß des Zuges überrascht. Dabei bekam ich erneut das Gefühl: wäre mir doch bloß ein Teil dieser Leute in den letzten Jahren aufgefallen, unser öffentliches Leben mitzuprägen.

Das kulturelle und politische Leben, in dem öffentliche Diskurse geführt werden, in dem der öffentliche Raum als Ort des gesellschaftlichen Lebens eingefordert und bespielt wird; nicht bloß mit gelegentlichen Protestmärschen und dem heimlichen Anbringen von Aufklebern mit allerlei Sprüchen. Aber da kursieren eben ganz unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen.

In einer Demokratie wählen Menschen ihre bevorzugten Weisen sich auszudrücken und mitzuteilen. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß eben diese Demokratie unter anderem darauf angewiesen ist, daß wir den öffentlichen Raum durch leibliche Anwesenheit zum politischen Raum machen; und zwar ganzjährig, nicht bloß sporadisch. Doch vielleicht ist das eine antiquierte Auffassung.

Ich äußere mich vorzugsweise zu Feldern, mit denen ich mich gründlich vertraut fühle. Also: der Kulturbereich. Da haben mindestens die letzten zehn Jahre gezeigt, daß es zu erstaunlich leisen Arrangements mit Politik und Verwaltung gekommen ist. (Dazu hängen die Kleiderschränke voll mit rebellischen Mäntelchen im Radical Chic.)

Das erleichtert mir zumindest, diese Vorstellung zu vertiefen: Wir sind keine derzeit „gespaltene Gesellschaft“, von der grade gerne gesprochen wird, da wir ja auch keine homogene Untertanenmasse sind. Natürlich ist unsere Gesellschaft seit jeher fragmentiert, ein bestenfalls komplementär angeordnetes Ensemble höchst unterschiedlicher Lager von verschiedener Größe.

Das ist vermutlich die gute Nachricht, denn ohne Vielfalt der Konzepte und ohne Antwortvielfalt ist ja eine pluralistische Gesellschaft nicht vorstellbar. Ich hab hier kürzlich eine meiner Lieblings-Mantras notiert: „Intelligenz ist die Fähigkeit, über einander widersprechenden Aussagen nicht den Verstand zu verlieren.“ [Quelle]

Und dann erlebe ich selbst in meinem engsten Umfeld immer wieder, daß sich jemand unbedingt über andere erheben muß, indem er Leute, die anders ticken, ausdrücklich als inferior darstellt. Der Modus ist bewährt: Selbstdefinition durch Feindmarkierung. Gut. Ich nehme zur Kenntnis, daß die Enkel von Untertanen sich immer noch nach Hierarchien verzehren; und nach höheren Positionen…

Man sollte vielleicht ein erfahrener Buddhist sein, um diese spezielle Art des rasenden Geltungsbedürfnisses zu bewältigen. Ich hab vor Jahren ein Ausstellung organisiert, der gab ich den Titel „Nobody Want‘s To Be Nobody“. Gerade in der Kunst ist das eine interessante Aufgabenstellung. Wie kann ich mich für Momente völlig zurücknehmen, wo die Eigenheiten des Betriebs mit empfehlen, mich um jeden Preis hervorzutun?

Naja, das bleibt ein ewiges Thema menschlicher Gemeinschaft: die Balance zwischen Eigennutz und Gemeinsinn. Und Begriffe! Noch so ein Krusche-Mantra: Wenn wir keine Begriffe haben, wissen wir nicht, wovon wir reden.

Beim gestrigen Demonstrationszug hörte ich zu Trommelschlagen wieder dieses „Keine Diktatur!“ Das bedeutet wohl: wir möchten keinen Tyrannen und keine Militärjunta, die unser aller Leben regeln. Ja, das möchte ich auch nicht. Eh klar: Belarus, Myanmar, Nordkorea, Österreich, Sudan, Syrien, Tadschikistan…

+) Kontext Covid-19


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