25. August 2021

Charlie. Und der Felsendom.

Musiker Oliver Mally hat gerade ein enormes Arbeitspensum abgewickelt, um mit einigen exzellenten Leuten eine Serie von Konzerten zu realisieren. Das war ein Pendeln zwischen Bühne und Tonstudio, weil er diese Situation genutzt hat, um einige Tracks für eine kommende Produktion einzuspielen.

Als wir gestern nachts telefoniert haben, schien für ihn klar, dieses Powerplay war auch nötig, weil im Herbst viele Läden dicht sein werden. Wir sehen, wie die Kurven hochgehen. (Meine regionalen Aufzeichnungen zeigen die Entwicklung deutlich.) Jetzt. Jetzt muß noch vieles erledigt werden. Demnächst werden die neuen Reglements uns manche Wege versperren.


Wir gehören übrigens beide nicht zu jenen Leuten, die sich nun im Herumjammern ergehen oder gar von „Diktatur“ faseln. Verfügbare Kraft reicht oft nur für eine von zwei möglichen Aufgaben und wir tendieren zu: „Lösen Sie nicht die Schuldfrage, lösen Sie das Problem.“

Aber eigentlich hatten wir über Charlie Watts gesprochen. Der achtzigjährige Stones-Drummer ist gestern verstorben. Die Nachricht flatterte in der zweiten Tageshälfte herein und entfachte via Social Media ein markantes Rauschen.

Mally sagte: „Bald haben wie eine Zeit, da gibt es das, was uns geprägt hat, nur mehr auf Schallplatten.“ Der Satz hat mehr Gewicht als auf Anhieb auffallen mag. Was vom Mississippi-Delta und aus New Orleans heraufkam, was aus den großen Städten zurückhallte und über die Felder wehte, um dann die Erde zu umkreisen, war das Erblühen einer damals ganz jungen Kultur.


Es war unter anderem die kulturelle Antwort auf eine entsetzliche Anmaßung weißer Leute: sich Sklaven zu halten. Die Sklaverei hat formell geendet, die Anmaßung ist geblieben. Wenn ich hier in der jüngeren Vergangenheit öfter Toni Morrison oder James Baldwin zitiert habe, hängt das damit zusammen.

Solche Lektüre wurde für uns zum Teil jener Erfahrungen, die uns ein Leben in der Kunst nahegelegt haben. Aber auch wenn wir uns über Algren, Brautigan, Saroyan, Steinbeck und Konsorten unterhalten, hat das damit zu tun.

Zur guten Nacht war ich bei Rotwein angekommen und schickte Mally ein: „To Charlie :-)“ „To Charlie!!“ kam zurück. Scotch. „Das haut rein.“ Mally meinte: „Do the ‚hip shake‘. Wird morgen abgebrannt. Mit Kompetenz!“ (Was ein Konzert heute abend meint.) „So muss das! wenn ein bedeutendes leben sich vollendet: hoch die tassen!“ Mally quittierte: „Absolut!“

Das alles hat freilich auch Aspekte des Sortierens. Ich bin 65. Wenn das bis 80 reicht, sind das noch fünfzehn Jahre. (Plus, minus was weiß ich…) Da interessiert mich natürlich die Frage, was dieser verbleibende Abschnitt sein möchte.

Zur Mitte des Tages hatte ich ein Glosse ins Web geschoben, die sich auf den Zeichner Heinz Payer bezieht. Darin implizit die Frage nach der Fülle eines Lebens. Meine bevorzugte Metapher vom Felsendom:

„Stellen Sie sich vor, sie stehen im Inneren eines Berges, in einer maßlos großen Höhle, einem Dom, der Ihrer ganzen Welt Platz bietet. Welche Art von Lampe haben Sie in Händen? Selbst die stärkste verfügbare Funzel könnte den Dom nicht ausleuchten; und egal, wie weit Sie sehen, wie viel Sie sehen, Sie spüren deutlich: dieser Dom ist größer. So sind wir in der Welt, unter den Sternen. Und so ist Kultur. Das – unter anderem – bedeutet es, in der Kunst zu leben. Die Lampe genügt nie!“ [Quelle]

+) Das Blatt "Charlie Watts"
+) Origami Ninja Association


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