16. Jänner 2021

Adaptionsphasen

Ich hab mich gerade an diesen Abend im vergangenen März erinnert, als klar war, wir würden in einen Lockdown gehen. Eine kleine Runde durch die Stadt, nötige Einkäufe, der Blick auf ein leeres Brotregal, Stimmabgabe zur Gemeinderatswahl, ein letzter Drink im Pub, das seither nicht wieder aufgesperrt hat…



Die SS Normandie, beim Pier 88 in Manhattan, am 14. September 1938 von Berenice Abbot fotografiert.

Ich nannte es Meine Trotzdem-Tour in rotzigen Zeiten“ (13.3.2020) und war zu der Zeit mit einengenden Bedingungen, die nun Allgemeingut wurden, schon gut vertraut. Das kam so, weil die Jahre davor für einen Freelancer vom Kulturbetrieb sich als sehr anstrengend und teilweise unfreundlich erwiesen hatten.

Der Rückblick läßt mich lächeln. Sogar in meinem nächsten Umfeld hatten sich einige Menschen hinreißen lassen, ein Taumeln in dieser Abwärtsbewegung des Kulturbetriebs als ein individuelles Versagen zu deuten. Die Annahme, daß diese Gesellschaft in eine Krise geraten sei, welche sich natürlich dort schnell bemerkbar macht, wo Leute in sozial schwachen Bereichen existieren, hätte ja andere Schlußfolgerungen erzwungen.

Wenn also der Künstler gerade gegen die Wand fährt, muß er es vermasselt haben. Diese Umdeutung ist bequemer als zum Horizont zu blicken, mit Stürmen zu rechnen und zu überlegen, was das für ein Gemeinwesen bedeutet.



Edvard Munch: „Melancholie“ (1894)

Nein, keine Sorge, diese kurzfristige Entlastungsstrategie hat auch in meinem Metier durchgeschlagen und die ankommende Druckwelle hat alle akuten Schwachpunkte des Kulturbetriebs deutlich hervortreten lassen.

Als dann die ausgebrochene Pandemie Brüche und Ungereimtheiten in so hartes Licht getaucht hatte und ein Ringen um nächste Bedingungen losging, bin ich zwar vom jüngsten Lauf der Dinge schon wund gewesen, aber ich hatte mir Strategien gesucht, mich in anderen Abläufen eingeübt, um die ich dann im ersten Lockdown von 2020 nicht mehr ringen mußte. Es war schon eingespielt.

Das bedeutet: auch wenn mich - wie alle anderen - ein merkwürdiger Schrecken erreicht hat, war ich schon auf dem Weg zu einem Seelenfrieden, der vielen gerade erst um die Ohren flog. Ich hab mich in der folgenden Zeit laufend mit Musiker Oliver Mally über diese Dinge verständigt.

Er lebt - wie ich - in der Kunst, ist ein permanent Lesender, unrettbar der Literatur verfallen, ein Cineast und sowieso tief in sein Genre verstrickt; in die Musik, zu der wir ausgestattet sind, wie wir ein Sprachvermögen haben. Dabei wurde klar: Wer nun schon geübt ist, in der Stille zu sein und da mit sich selbst konfrontiert zu werden, ist derzeit im Vorteil.



William Turner: “Sheerness as Seen From the Nore” (1808)

Wer nun schon mit finanziellen Krisenlagen erfahren ist, gewohnt, diese durchzustehen und zu lösen, ist derzeit im Vorteil. Wem es vertraut ist, für sich selbst Verantwortung zu tragen und sich bei Problemen nicht auf andere auszureden, ist derzeit im Vorteil.

Derlei bedeutet keinesfalls, daß man ohne Schrammen durch solche Monate kommt. Aber es ermöglicht vermutlich mehr Handlungsspielraum als ihn jene haben, die gerade von Angst und Geldsorgen umgetrieben werden. (Ich kenn das schon seit Jahren.)

Das heißt, ich bin ebenso der Angst ausgesetzt. Aber sie ist das Wasser, auf dem ich mit meinem kleinen Ruderboot vom Fleck komme. Und was diese Monate insgesamt auslösen, würde ich am ehesten als Melancholie bezeichnen. In solcher Zeit ist es gut, sich mit Menschen verständigen zu können, die nicht aus Angst um sich schlagen, zynisch wurden oder wie Katastrophen-Junkies nur mehr auf Schreckensmeldungen starren. [Die erste Liste der Covid-Notizen]


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