6. Dezember 2020
Die Verschnöselung
Österreichs III
Wenn ich über die Erfahrungen meiner
Eltern und Großeltern nachdenke, muß ich jenes Motiv vom
Tisch wischen, das besagt: „Wir wurden verführt.“ Das mag
auf einzelne Menschen zutreffen, denn ich weiß um die Macht
von Propaganda, um die Möglichkeiten, wenn man die Medien
unter seine Kontrolle bekommt.
Aber zugleich drückt
jedes politische System auch aus, wozu Gemeinschaften bereit
sind. Als die Christlichsozialen mit den Vaterländischen
regiert haben, mißfiel mir etliches. Da sie nun mit den
Grünen regieren, mißfällt mir auch vieles. Doch das sind nun
eben jene politischen Verhältnisse, die wir alle während der
letzten vierzig Jahre möglich gemacht haben, als meine
Generation erwachsen genug war, um in dieser und jener
Verantwortung zu stehen.
Ein Bonmot besagt, der Mensch habe im Herzen vor allem zwei
zentrale Grundbedürfnisse, das nach Zugehörigkeit
und das nach Autonomie. Aristoteles hinterließ
uns den Gedanken, der Mensch sei ein „zoon politikon“, ein
Wesen, welches das Leben in Gemeinschaft bevorzug. Die
Autonomie, sich selbst seine Regeln zu geben, ist ein weit
jüngeres Konzept.
Es verlangt allerdings, daß man selbst
sehr viel Verantwortung übernimmt. Wer nicht beherrscht werden
möchte, muß viele Dinge nach eigener Facon regeln. Die Vorzüge
der Selbstbestimmung werden gerne begrüßt, der Preis dafür
schmeckt nicht allen.
Das Nachdenken über Demokratie
führt für mich unausweichlich zu einem Wechselspiel zwischen
Gemeinwohl und Eigennutz, da spielt die Eigenverantwortung eine
wichtige Rolle. Wir erleben gerade, daß rund ein Jahrzehnt
Gerichtsverfahren gegen Ex-Finanzminister Grasser und
seinesgleichen zu ersten Urteilen geführt hat. Es sollte dabei
klar sein: wer meint, alles was nicht verboten ist, sei erlaubt,
sind eine Gefahr für das Gemeinwesen.
Einzelpersonen mit
einem ethischen Konzept zugunsten der Gemeinschaft. Politik als
ein Zusammenwirken von Staatskunst und Gemeinwesen. Demokratie
als Garant für Interessensausgleich, Verteilungsgerechtigkeit
und Rechtssicherheit. Somit ein geschütztes Gebiet gegenüber
Wildnis und Räuberei. Ist das eine zu romantische Vorstellung?
Bedaure, aber Kanzler Kurz und
seine Entourage geben mir geraume Zeit das Gefühl, sie
hätten ein ganz anderes Konzept für ihr Regieren, das
vom aufgeregten Reden des jungen Helden nur mäßig
bemäntelt wird.
Mein Verweis auf Aristoteles
beinhaltet einen Hinweis auf Anfänge des Ringens um
Vorstellungen von Demokratie. Das Wort kommt übrigens
von Demos, dem altgriechischen Wort für Staatsvolk.
Demos deckt sich nicht mit Ethnos, einer kulturelle
Kategorie. Die immer noch populäre Bestrebung, ein
Staatsvolk möchte möglichst umfassend eine ethnisch
homogene Kategorie sein, ist Unfug.
In den mehr als zweitausend Jahren des Streitens über Demokratie und des
Erprobens von Demokratie hat sich die Praxis laufend
verändert. Darin ist selbstverständlich auch heute kein
Schlußpunkt erreicht. Dieser Prozeß geht weiter. Also
müssen wir klären, was wir für eine zeitgemäße
Demokratie und deren Praxis halten. Dann können wir auch
besser feststellen, was von der Regierung unter Kanzler
Kurz zu halten sei.
Zu meiner
zweiten
Notiz über die Verschnöselung Österreichs kam eine
anregende Replik von Publizist Johannes Tandl:
„Nichts killt ein schlechtes Produkt schneller als gute
Werbung, sagen die Werber zu ihren Kunden, wenn eine
Kampagne die Erwartungen nicht erfüllt, Martin. Aus
meiner jahrzehntelangen Tätigkeit im Marketinggeschäft
weiß ich, dass an dem Spruch viel Wahres dran ist, und
dass er vor allem für die Politik gilt. Daher hat der
Kurz bis jetzt nicht viel falsch gemacht. Das Erfolgsmaß
in der Politik besteht jedoch aus Wählerstimmen und
nicht daraus, wie viel Gutes ein Politiker mit seinen
Handlungen bewirkt.“
Das scheint mir
plausibel und schiene mir passend, falls man Politik als
Geschäftsmodell versteht und eine Partei als Firma, die
etwas produziert, auf den Markt haut, sich um
Marktführerschaft bemüht. Klären wir doch, ob diese Art
von Politik für akzeptabel halten…
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