23. August 2020

Solidarität ist auch nur ein Wort

Gut, ohne wohlgemeinten Zusammenhalt, für den man aus freien Stücken wechselseitige Verpflichtungen eingeht, wären wir als Spezies vermutlich längst von der Bildfläche verschwunden. Solche Art Solidarität hat eine wesentliche emotionale Dimension. Zweckgemeinschaft reicht nicht.

Mir mißfällt der Begriff Idealismus, weil er bei uns so rührselig konnotiert ist. Er wurde zu einer Art Kampfbegriff, um unbezahlte Arbeit zu behübschen. Mir ist lieber, wir können offen über Intentionen und Interessen reden. Da entsteht dann im günstigsten Fall, was ich mir unter Redlichkeit vorstelle; nämlich ein Fließgleichgewicht zwischen dem Denken, Reden und Tun eines Menschen.



Heinz Sichrovsky in „News“

Das wäre dann auch, was ich für eine Quelle von Politik halte. Der Verzicht auf verdeckte Intentionen. Das Verhandeln der Verhältnisse. Das Bemühen um Interessenausgleich und Verteilungsgerechtigkeit.

Menschliche Gemeinschaft funktioniert freilich ebenso unter Zwang, unter dem Dauereinsatz von Propaganda. Doch mir scheint, da ist der soziale und psychische Abrieb so groß, daß die Haltbarkeit solcher Gemeinschaften überschaubare Grenzen hat. Kommen Sie mir jetzt aber nicht mit Nordkorea!

Aus Kulturen, deren Menschenbild und Weltbild sich derart fundamental von meinem unterscheidet, ebenso das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, bekomme ich eventuell Anregungen für mein Leben, aber keine Argumente für mein Thema.

Das Wort Solidarität ruht auf einem Konsens über Wertvorstellungen, Modi, über die soziale Ordnung in einer Wir-Konstruktion. Es gibt dazu so launige Begriffe wie Gesinnungsgemeinschaft oder Bewegung, wie sie zum Beispiel in der Politik vorkommen.

In den letzten Jahrzehnten wurde das vor allem im politisch rechten Spektrum betont. Ich vermute, um sich vom Begriff Partei abzusetzen, um gegenüber bestehenden Verhältnissen irgendein Alleinstellungsmerkmal hinzubekommen.

Wir, das Kunstvölkchen, haben auch solche Konventionen. Eben leitete Heinz Sichrovsky einen Bericht in „News“ mit einer der erfolgreichsten Wanderlegenden unseres Metiers ein: „Solidarität unter Künstlern gehörte seit Jahrzehnten zum guten Ton.“ [Quelle]



Die Verkündung von Budgetzahlen ersetzt uns keine
kulturpolitischen Diskurse.

Das mit dem Tonfall mag ja stimmen. Als gelebte Realität ist das ein sozialer Mythos. Daran wäre nichts auszusetzen, denn jede Wir-Konstruktion braucht ihre Legenden, die sich möglichst von einem emotional bewegenden Gründungsmythos herleiten lassen. Das Wir braucht für seine Haltbarkeit Narrative.

Doch wenn es eng wird, zeigt sich, was die Narrative taugen. Was die angebliche Solidarität in meinem Metier angeht, ließen sich schon die letzten 20 Jahre kaum relevante Beispiele finden. Pandemie und Lockdown haben das noch deutlicher gemacht.

Nun bin ich kein Kulturpessimist. Ich wünschte bloß, wir würden wenigstens in meinem Metier auf Propaganda-Geschwafel verzichten, würden die Summe unserer Wahrnehmungserfahrungen und Ausdrucks-Kompetenzen auch für unser Berufsfeld nutzen. Das sollte sich allein schon ein einem anderen Jargon, in anderen Sprachregelungen als jenen etablierter Politik ausdrücken…


Siehe dazu auch:
+) Vernetzung und Legendenbildung
+) 1985 bis 2015: Protokoll einer Solidaritäs-Simulation

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