20. Juli 2020
Die Rache ist mein
Ich hab eben notiert, daß mein Sohn nun weiß, ich möchte nach
meinem Ableben in keinen Anzug gesteckt werden. Außerdem solle eine
mögliche Trauerfeier durch ein Fest ersetzt werden. Zugegeben, das ist
mehr meiner Laune als Bedürfnissen anderer Menschen gewidmet. Dabei wäre
ich dann der einzige auf dem Set, dem das alles völlig egal sein könnte.
Ferdinand Micha Lanner kommentierte diese Passage mit dem Hinweis,
er wolle seine Grabrede selbst verfassen, denn „ich will einfach
nicht, dass ein Irgendwer einen kurz zusammengestückelten, salbadernden
Unsinn erzählt, wenn man sich das letzte Mal sieht“.
Lanner
meinte ferner, das wäre „eine Art Abschiedsbrief“ und fragte:
„warum macht das eigentlich nicht jeder?“ Hieße das womöglich,
sich selbst über sein Leben Rechenschaft abzulegen? Sehr riskant!
Ich hab in meiner gestrigen Notiz zur neuen
Bourgeoisie „eine verblüffende Rücksichtslosigkeit von
Aufstiegswilligen“ erwähnt. Da werden bei der letzten Ausfahrt
vermutlich eher gehabte Verdienste aufgezählt.
Allein die
Konvention, beispielsweise einen Minister im Ruhestand (i.R.) oder einen
Direktor außer Dienst (a.D.) zu betonen, ist eine brüllende
Lächerlichkeit vor dem Tod, aber eine eifrige Verbeugung vor den
Hinterbliebenen. (Wer a.D. ist, darf eventuell wieder Dienst tun, was
bei i.R. nicht vorgesehen ist.)
Dazu komme ich, da es
gestern um Sprücheklopfer ging,
nun selbst mit einem Zitat das ich überdies längst breitgewalzt hab.
Aber ich kenne keine gleich gut klingende Variante. Soziologe Gunnar
Heinsohn meinte: „Um Brot wird gebettelt, um Rang wird geschossen“.
Das tröstet mich im Verständnis jener Herzchen, deren Ego andere bei
Bedarf platt macht. Rang. Dieser Hunger blüht noch, wenn jemand an
seinem Geld längst ersticken könnte. Freilich ist das alles in
Betulichkeit gewickelt und mit Ethos behängt. Das haben auch diverse
Dorfhonoratioren in entlegenen Winkeln drauf, im aufstrebenden Ort
Gleisdorf sowieso.
Ich weiß, das Werten hilft mir nicht weiter. Nüchterner betrachtet heißt
es ja: wir sind von sehr verschiedenen Lebenskonzepten umgeben. Darin
formieren sich Grüppchen, Milieus, verschiedene Lager.
Das
Gemeinsame? Wir bestellen den Boden. Wie begraben unsere Toten. So ließe
sich zusammenfassen, was Kultur meint. Zwischen diesen beiden Motiven
tun sich viele Details auf. Im Fundament von Kultur fehlt aber noch was:
Gewaltverzicht.
Ich komm mit einem weiteren Zitat. Ich mag
nämlich Zitate. Sie sind Positionslichter auf dem stellenweise sehr
dunklen Terrain, das sich erhellen läßt, wenn ich mich in der Welt
hinterlassener Texte ein wenig orientieren kann.
Das Buch
Deuteronomium ist der fünfte Teil des Pentateuch. Es geht
um das Leben von Moses. Ich denke, die volkstümliche Kolportage aus
5.Mose 32 ist allgemein bekannt. Sie lautet – je nach Übersetzung -
etwa: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“. (Das findet sich
auch in Roemer 12:19.)
Genauer: „Die Rache ist mein, ich will
vergelten“. Man hat mir erzählt, das sei ein Hinweis auf den
rachsüchtigen Gott des Alten Testaments. Ich lese es anderes. Es
empfiehlt den Gewaltverzicht, damit nicht Faustrecht herrscht, was jeden
sozialen Frieden zerschlagen und jede Kultur zerstören würde.
Hier wird das Gewaltmonopol an eine göttliche Instanz übergeben, wie wir
es heute dem Staat übergeben. Weshalb? Manchmal sind wir mit
Gewalttätern konfrontiert, was zwei Optionen nahelegt: abschrecken oder
entwaffnen, letzteres notfalls tödlich. Genau das erlauben wir in
Gemeinschaft nicht allen und nicht ohne Reglement.
Wenn aber
offene Gewalttätigkeit geächtet und das Gewaltmonopol an eine höhere
Instanz abgegeben ist, wird jemand seine Expansionsbedürfnisse, seinen
Aufstiegswillen, eventuell mit subtileren Waffen und Werkzeugen
voranbringen, wird sein Zuschlagen nach Kräften verschleiern. Damit wäre
ich wieder beim Motiv der neuen Bourgeoisie…
-- [Bourgeoisie]
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