5. März 2020
Erinnert sich noch jemand an die Unruhe, die vor Jahren entstand,
als Camille Paglia mit ihren Debattenbeiträgen rausging? Wenn ich
mich recht erinnere, erschienen „Die Masken der Sexualität“
etwa Ende der 1990er als wuchtiger Wälzer bei DTV.
Davor hatte in meiner Umgebung ein anderes Buch Skandal-Rang
gewonnen. Das gab es schließlich ebenfalls als preiswerten Wälzer
bei DTV: „Kleriker. Psychogramm eines Ideals.“ von Eugen
Drewermann.
Damit wäre betont: dicke Bücher. Fundierte
Debattenbeiträge, die enorme Diskussionen ausgelöst haben. Ich
erinnere mich vage an eine Veranstaltung, in der Camille Paglia von
der Schwäche gegen sie vorgebrachter Argumente so verärgert war, daß
sie die Session verließ.
Mir kamen diese beiden Bücher in den
Sinn, als ich darüber nachgedacht hab, wann mir zuletzt öffentliche
Debatten über die Verzahnung von Sexualität und Gewalt aufgefallen
wären. Es gab in jüngerer Vergangenheit einige Schübe in den Medien,
wo sich einzelne Kleriker oder die Kirche gesamt einschlägigen
Vorwürfen stellen mußten.
Es scheint mir, daß diese Fälle
unter enormem Druck vor den Vorhang kamen, aber in der Nachbereitung
schnell verklungen sind. Was sonst? Derzeit trommeln noch diverse
FPÖ-Kräfte auffallend heftig, um ein atemberaubendes
Ablenkungsmanöver in Gang zu halten.
Diese übermäßige
Betonung der Vaterländischen, eine „importierte“ Gefahr für
Österreichs Frauen und Kinder entdeckt zu haben, unterstellt, daß
wir erst durch muslimische Fremde über den Schutz der Betroffenen
nachdenken müßten.
Damit wird übertönt, was vor allem einmal
Thema sein sollte: die epidemischen Ausmaße innerfamiliärere Gewalt,
zu der ein erheblicher Anteil sexualisierter Gewalt gehört. Ein
großes, von unseren Leuten hausgemachtes Problem, zu dem freilich so
einige Vorfälle gekommen sind, bei denen Fremde als Täter
identifiziert werden konnten. Aber der Hauptteil dieser Mißstände
ist autochthon.
Zum Mitschreiben: Es bleibt immer noch eine
Tatsache, daß der erdrückend große Anteil solcher Taten von
Einheimischen ausgeführt wird, darunter in beunruhigender Zahl von
Verwandten der Opfer beziehungsweise von Leuten aus ihrem vertrauten
Umfeld.
Diese Art der Gewalttätigkeit, in tausend Nuancen
abgestuft und in allen sozialen Milieus zu finden, ist ständig
präsent, aber meist gut verborgen. Als ich darüber kürzlich mit
einer Frau um die Vierzig sprach, sagte sie: „Ich kennen keine
Frau, die an ihrem Arbeitsplatz noch keine Übergriffe erlebt hätte.“
Eine der merkwürdigsten Schilderungen hörte ich von einer
Reinigungskraft. Sie fände es bedrückend, wenn sie in der Firma
Sowieso die Herrentoilette putzen würde, daß Männer sich oft
ganz ostentativ zum Pieseln neben ihr aufstellen und laute
Bemerkungen machen würden.
Die Verknüpfung von Sexualität und
Gewalt kennt also viele Variationen und Momente. Es ist offenkundig,
daß wir keinen ausreichend breiten gesellschaftlichen Konsens haben,
solches Verhalten zu ächten, zu bannen, wo es Menschen zur Gefahr
wird.
Auch wenn es ebenso
Frauen als Täterinnen gibt, bin ich überzeugt, dieser Status quo ist
Ausdruck einer vorherrschenden Männerkultur.
Ich hab im
Eintrag vom 3. März 2020
das Thema „Sexualität und Gewalt: die zügellosen Schwestern“
genannt. Ich denke, dazu wird es heuer noch ein paar Schritte in die
Öffentlichkeit geben. Dabei interessieren mich vorerst nicht die
pathologischen Varianten solcher Kräftespiele.
Was allgemein
als „Triebtäter“ gilt, wird dabei kaum mein Thema werden, weil man
dafür sehr sachkundig sein müßte. Zu viele Klischees und zu viel
Voyeurismus umlagern diesen Bereich.
Mich interessiert
derzeit speziell, was wir von all dem in uns finden oder allenfalls
an uns leugnen, noch bevor es zu Situationen kommt, in denen ein
Gegenüber verletzt, beschädigt wird.
Wir verdanken Søren
Kierkegaard bezüglich Tabu und Grenzüberschreitung einen sehr
interessante Gedanken. Er meinte, es sei nicht das Reglement, das
Gesetz, wodurch unser Begehren entfacht werde, sondern die Angst vor
der Sünde selbst.
Das ist eine Unterscheidung, über die sich
das Nachdenken lohnt. In diesem Zusammenhang meinte Kierkegaard,
Angst sei ein Begehren dessen, was man fürchtet. |