14 Oktober 2019

Haben wir einen neuen „Fall Handke“? Falls ja, gibt es neue Erkenntnisse? Was den Nobelpreis angeht: Ist es eine ausgemachte Sache, daß dessen Komitee keine „Politik machen“ dürfe? Falls ja, wo wurde das verhandelt?

Ich staune zur Zeit, wer sich alles aus aktuellem Anlaß an Handke abarbeitet und mit welchen Argumenten das geschieht. Ich bin fast schon gerührt, wie plötzlich aus dem Blauen das angebliche Vermächtnis von Alfred Nobel verteidigt wird.

Eben erst hab ich einer Freundin, die das alles gut kennt, am Telefon gesagt, ich würde mich in dieser Sache nicht mehr exponieren, denn ich fände darin kaum mehr als eine Wiederholung von schon gehabten Debatten mit schon verwendeten Augmenten. Dafür hab ich nun zum Glück keine Garantier abgegeben.

Sie ahnen schon, die aktuelle Entwicklung macht mich stutzig, weckt meine Skepsis. Wird es so sein wie kürzlich, als Notre Dame brannte? Wie lange hielt die enorme Erregung und die Sorge um eine Kultur des Abendlandes, die sich mir via Tagespresse und via Social Media mitteilte? Waren das mehr als ein, zwei Wochen?
.

Was ich über das vergangene Wochenende so zu lesen bekam, Erregung, Empörung, Auslassung, möchte ich vor allem mit einem Zitat des Literaturpreisträgers Bob Dylan beantworten. Als His Bobness einst zur Elektrogitarre griff, schrie ihn ein wütender Exponent der Folkies während eines Konzertes an: „Judas!“ Dylan erwiderte: „I don’t believe you.“

Ich blättere kurz zurück. „Wer im Fall von Konflikten vermitteln will, gerät in Gefahr, selbst zur Zielscheibe zu werden.“ Diese Passage stammt aus einem Text von Historiker und Konfliktforscher Kurt Gritsch, publiziert Ende 2012. Wer ist Gritsch? Hier sein Curriculum Vitae als PDF auf dem Server der Universität Innsbruck: [Link]

Da heißt es unter anderem: „Für seine Kritik an der westlichen Berichterstattung über die jugoslawischen Zerfallskriege (Bosnien 1992-1995, Kosovo 1999) wurde der Schriftsteller geächtet. Dabei hatte er in der Hauptsache recht.“ [Quelle]


Gritsch hat allerhand verfügbare Quellen durchgesehen und eine ansehnliche Sammlung von Zitaten exzerpiert, kommentiert: Feuilletonistische Hinrichtung? Peter Handkes Äußerungen zum "Kosovo-Krieg" in den deutschsprachigen Printmedien 1999. In: Österreich in Geschichte und Literatur 1/2013, S. 91-109. Ein Scan dieser Publikation ist als PDF im Web verfügbar: [link]

Ich hab in meiner gestrigen Notiz zum Thema einige Schriftsteller und Journalisten erwähnt, deren Arbeit wie Ansichten ich sehr schätze. Dazu fiel mir inzwischen noch der Kroate Nenad Popovic ein. Keiner von ihnen wäre mir je durch Polemik oder sachlich gering fundierte Äußerungen aufgefallen. Ihre Kritik an Handkes Verhalten und Äußerungen in einer ganzen Reihe von Punkten ist unmißverständlich.

Dazu kommt inzwischen, daß uns allerhand Arbeiten aus jüngeren wissenschaftlichen Diskursen vorliegen, in denen Handkes Texte zur Diskussion standen. Ich nenne als ein Beispiel die Masterarbeit „Peter Handkes ‚Unter Tränen fragend‘ in serbischer Übersetzung: Eine Übersetzungskritik nach dem Modell von Antoine Berman“ von Tatjana Kojić. Der Text ist hier als PDF verfügbar: [Link]

Durch solche Bemühungen werden manche Stellen der vergangenen Ereignisse transparenter, wenn man sich fragt: Wie wird mit Aussagen umgegangen? Was bewirken Auftritte? Diese Diskussionen waren seit damals nie zu Ende, waren auch noch nie überflüssig. Außerdem blieb Handke damals nicht der alleinige Anlaß, Zustände und Diskurse zu überprüfen.

So fragte zum Beispiel Reinhard Mohr 1999 im Magazin „Der Spiegel“ etwas, das wir auch dieser Tage für klärungsbedürftig halten: „Was heißt links sein heute?“

Darin findet sich die Passage: „Dass Peter Handke schweigt, nimmt nicht wunder, er hat sich längst um Kopf und Kragen geredet. Aber wo bleiben all die anderen Ankläger des weiland ‚neugroßdeutschen Militarismus‘, die Verschwörungstheoretiker und Teufelsaustreiber mit dem eingebauten Moral-Navigator - Ströbele, Bednarz, Schwarzer, Winkler, Gysi, Wallraff, Alt, Pohrt, Amendt, Castorf, Peymann e tutti quanti?“ [Quelle]

Und Alfred Nobel? Wer mit ihm gegen Handke argumentieren möchte, wird es schwer haben. Laut Testament von 1895 ergehe vom Ertrag der Stiftung „ein Teil an denjenigen, der in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat“.

Per Wikipedia erfahre ich: „Dies ist die einzige schriftliche Äußerung von Nobel selbst über den Preis. Weder über seine Motivation, den Preis zu stiften, noch über die vielen organisatorischen Details, die zur Preisvergabe nötig sind, gibt es weitere Ausführungen. Daher blieb die Ausgestaltung des Preises zu großen Teilen den Nachlassverwaltern, heute in Form der Nobelstiftung, überlassen.“ [Quelle] Daher frage ich wiederholt: Haben wir einen neuen „Fall Handke“? Falls ja, gibt es neue Erkenntnisse?

-- [Tesserakt] --

P.S.: Die Fotos (von oben nach unten) hab ich von folgenden Orten mitgebracht: Račak (Kosova), Omarska, Novi Sad, Sarajevo und Potočari

[kalender] [reset]