13. Oktober 2019

Peter Handke und der Literaturnobelpreis. Nein, ich bin augenblicklich nicht mehr an einer ausführlicheren Debatte dieser Angelegenheit interessiert. Aber ich werde mich gerne überraschen lassen, was dazu eventuell an neuen An- und Einsichten auftaucht. Ich hab viel von dem gelesen, was Handke zum Untergang Jugoslawiens publiziert hat. Das steht alles in meiner Bibliothek. Darin finde ich keine Stellen, die belegen, was ihm nun erneut vorgeworfen wird, um ihn als „Leugner und Relativierer“ zu markieren.

Seine Bücher stehen bei mir übrigens neben Werken von Slavenka Drakulic, Dzevad Karahasan, Muhidin Saric oder Dubravka Ugrešic, allesamt Teil einer südslawischen Intelligenz, die unter serbischen Aggressoren gelitten haben. Dazwischen so schwer erträgliche Berichte wie der von Jadranka Cígelj, die das „Appartement 102“ von Omarska überlebt hat.

Mich hat das über Jahre hinweg sehr beschäftigt, weil ich in der realen Begegnung mit Betroffenen aller Seiten etwas über Menschen im Krieg erfahren konnten, das mich begreifen ließ, was ich an meinen Leuten als Kind nicht hatte entschlüsseln können.

Erst als erwachsener, belesener, vielseitig erfahrener Mann konnte ich diesen schließlich verborgenen Dingen nachgehen, um das zu ergründen, was ich als Kind nur gespürt hab, was mich damals in Worten, Taten und mit Schweigen unterminiert hatte, als unsere Leute noch in vergleichbare Kräftespiele einer Nachkriegsgesellschaft verstrickt waren.

Und Handke? Ich hab mit ihm nichts zu schaffen. Er bietet mir Lektüre, Quellen und Denkanstöße. Mehr schert mich der Mann nicht. Aber es gilt freilich auch Kontext zu beachten. Wer via Massenmedien seine Ansichten publiziert, hat eine Wirkung auf das Gemeinwesen und muß sich daher der Kritik stellen. Auf Handke trifft das unbedingt zu.

Es gibt zwei Publizisten, die ich auch aus persönlichen Begegnungen kenne, die ich in Fragen bezüglich Südosteuropa sehr hoch schätze. Norbert Mappes-Nidiek und Gregor Mayer. Beide stehen Handke in diesem Zusammenhang ablehnend gegenüber, haben ihre Mißbilligung seiner damaligen Schritte ganz unverblümt geäußert. Das kann ich nicht ignorieren, da ich ihrem Urteil traue.

Ich bin über die Jahre verschiedenen südslawischen Autoren begegnet, hatte Gelegenheiten zu Gesprächen, auch zu gemeinsamen Auftritten. Unterhält man sich zum Beispiel mit dem bosnischen Schriftsteller Dzevad Karahasan, wird man von ihm keine heftigen Worte hören, aber seine Kritik an Handke ist unmißverständlich.

Das Bewegendste waren für meine Abende mit dem bosnischen Dichter Muhidin Saric. Wir wechselten uns vor Publikum im Lesen seiner Texte ab, er Bosnisch, ich Deutsch. Saric hat unter anderem das Todeslager Keraterm überlebt, die Taten einer serbischen Soldateska aus eigener Anschauung beschrieben. Gerade seine stille, poetisch Präzision hat das stellenweise zur schrecklichsten Lektüre gemacht, die ich kenne.

Ich hab den Eindruck, er ist von ganz anderen Dingen bewegt gewesen, als sich etwa über Handke zu unterhalten oder sich über ihn den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte nicht das Gefühl, daß Handke für Menschen wie ihn eine wichtige Gestalt ist, deren Tun oder Lassen ihnen speziell nahegeht. Ich muß annehmen, das Mißhandeln und Totschlagen, mit dem sie in Berührung kamen, ordnet ihre Prioritäten anders.

Im bosnischen Prijedor war ich Überlebenden von Omarska begegnet, hatte eine Debatte zwischen ihnen und jüngeren Menschen miterlebt. Ich hab mich in der Situation damals nur einmal mit einer Frage zu Wort gemeldet und erhielt umgehend Antwort, daß man sich derzeit lieber nicht mit den Ansichten eines Zugereisten befassen möchte, daß man genug zu tun habe, die Verständigung unter den eigenen Leuten voranzubringen.

Mag sein, daß sich südslawische Leute, auch etliche innerhalb der serbische Ethnie, heute von Handkes Preis brüskiert fühlen. Die brauchen aber mich nicht, um da etwas zu regeln. Das wird auf dem Balkan debattiert, das wird in der Diaspora debattiert. Ich warte neugierig, zu welchen neuen Positionen das allenfalls führt. Ich betone dabei „neu“, denn von alten Positionen sind mit ausreichend viele schon bekannt.


Von links: Dzevad Karahasan, Martin Krusche und Anna Badora (Foto: Frankl)

Also bitte, erklären Sie mir Handke nicht! Ich hab mir schon ein Bild gemacht. Und verschonen Sie mich vor allem mit dem Herbeten beliebiger Headlines, aufgeschnappter Titelzeilen, die wir alle vor zehn und vor zwanzig Jahren auch schon auf den Tischen hatten. Ich möchte lieber von den primär Betroffenen hören, was sie heute bewegt und wie sie mit all dem zurecht kommen.

Bliebe noch das neuerdings populäre Zitieren von Stellen aus Alfred Nobels Vermächtnis, um ein paar moralische Argumente auszuschütten. Das kommt mir beispielsweise zuhause von Menschen, die ich im laufenden Kulturbetrieb noch nie gesehen hab, um sich für das geistige Klima der Region zu exponieren. Daher halte ich das für gefällige Moraltrompeterei und würde gerne erst ein paar gute Gründe hören, diese Debatte aufzumachen.

Bis dahin antworte ich mit einigen Zitaten. Solle nun „Doris Lessing der Nobelpreis aberkannt werden, weil sie Stalin verehrte? Was ist mit Pablo Neruda? Was mit Marquez, der Fidel verehrte? Was mit Kipling? Ich kann weitere nennen?“ (Doron Rabinovici)

 

Jean-Paul Sartre hätte den Literaturnobelpreis bekommen, lehnte ihn aber ab. „Seine Verteidigung von Moskau bis Castro, sein Kampf gg Camus & anderes waren auch indiskutabel.“ (Isabelle Daniel) Oder: „Hamsun. Und selbst Churchill würde heute als Reaktionär und Kolonialist durch Sonne, Mond und Sterne geschossen werden.“ (Oliver Pink) Gut. Kann man anpacken.

Aber es ist auch nie zu spät, sich für derlei Zusammenhänge dort zu engagieren, wo man gerade steht. Dazu hätte ich einen Literaturtip. Ich hab
Die Kultur der Lüge von Dubravka Ugrešic als sehr anregende Lektüre in Erinnerung. Wir könnten, davon ausgehend, darüber reden, ob sie in dem Buch Kräftespiele beschreibt, die uns eventuell sehr bekannt vorkommen. Und falls wir uns darin an manchen Stellen wiedererkennen, wäre spannend zu erörtern, was wir nun tun wollen. (Ich hoffe, das war jetzt nicht zu viel Whataboutism!)

-- [Tesserakt] --

P.S.: Das erste Foto hab ich aus Kosarac mitgebracht, das zweite aus Vukovar, das dritte erklärt sich selbt.

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