Apropos Verschnöselung. In diesen Tagen, da unser aller Telepräsenz
von vielstimmigen Schlachtgesängen erfüllt ist, stellen Menschen
einander mit großer Leidenschaft psychologische Befunde zu. Freud
auf schlampig. Da kommt kein grundlegender Respekt für
Andersdenkende auf, sondern wir erleben Instant-Tribunale. Das geht
zack, zack, zack.
Ich hab mir in diesem Zusammenhang vor einer Weile eine interessante
Aussage des Psychiaters Manfred Lütz notiert: „Um eine
psychiatrische Diagnose zu erstellen, müssen sie immer auch eine
körperliche Untersuchung machen, weil eine körperliche Störung alle
psychischen Störungen imitieren kann. Chamäleonartig. Das heißt, sie
können denken, das ist eine Depression, in Wirklichkeit ist es eine
Schilddrüsenerkrankung. Die haben sie aber nicht festgestellt.“
Ich staune stets neu, wie sehr unsere Psyche in Körperchemie
eingebettet ist. Darin liegt ein weiterer kleiner Hinweis, wie sehr
sich da jede Fernfuchtelei verbietet. Und wie sehr wir uns
eigentlich über Dissens freuen könnten, denn er gibt uns Anlaß, die
eigene Haltung gegenüber Andersdenkenden zu überprüfen. Wäre das
nicht ein konstituierender Aspekt von Demokratie?
Inzwischen
scheint mir allerdings, daß sich selbst in meinem nächsten Umfeld
die eine oder andere Sekte der gnadenlos Guten formiert
hat, deren selbstreferentielle Verfaßtheit anscheinend gebietet,
Andersdenkende herabzusetzen und deren Ansichten als irrelevant zu
kennzeichnen.
Das geht freilich nicht ohne Legitimation. Die
stellt man sich am besten selbst aus. Und nun: Fest, Jubel,
Trommelwirbel, Fanfare! Oder wie es Matthias Marschik ausdrückte:
„Und bejubelt werden die Erfolgreichen oder die
Erfolgversprechenden.“ Aber wie kommt es dazu? Ich sag es ja:
selbstreferentiell. Oder Marschik: „Und weil sie inzwischen
selbst definieren, was Erfolg ist, sind sie auch erfolgreich.“
Dazu fällt mir erneut die glänzend inszenierte
Geschwätzigkeit der „ABOUT YOU Awards 2019“ ein, die ich im
vorigen Eintrag erwähnt habe. Dieses
„Man ist dafür berühmt, berühmt zu sein“.
Vielleicht
gilt es zu verstehen, daß einiges so kommen mußte, wo wir die
Feudalzeit gekippt und den Hof abgeschafft haben, aber das Höfische
nicht aufgeben möchten. Wenn schon der Pöbel zum Zug kommt, dann
sollte man sich im Gepränge bewähren können, falls man es schafft,
zum Hofstaat zu gehören; und sei es nur am Rande, aber doch am
liebsten im Zentrum.
Nein, ich meine das nicht zynisch,
sondern versuche zu begreifen, wo der Fokus liegt, wovon die
Verhältnisse geprägt sind und wovon das alles handelt.
Yorgos
Lanthimos hat mich mit seinem Film „The
Favourite“ (2018) ziemlich beeindruckt. Darin erscheint mir
sehr plausibel dargestellt, was ich mir unter „höfisch“ vorstellen
darf; sowohl in der psychologischen wie in der materiellen
Ausstattung. Hofschranzen und Majestäten im Wechselspiel.
Eben solches Hofschranzentum, das sich um den Souverän drängt,
aufgeblasen und auffallend gekleidet, finde ich dann in der Variante
für den Pöbel bei den „ABOUT YOU Awards“. Noble Distanz
durch Distanz. (Aber wehe, eine dieser Figuren macht den Mund auf!)
Nein, ich stoße mich nicht daran. Nicht mehr. Archäologin Sarah
Wolfmayr hat mir kürzlich einen kleinen Eindruck verschafft, mit
welch enormem Gepränge und Aufwand an Inszenierungen einst die Arena
bespielt wurde.
Der Zirkus mit seinem Glanz und seinen
Grausamkeiten als innenpolitische Strategie und als kulturelles
Phänomen. Ein Gladiator mußte zu keinen geistreichen Aussagen fähig
sein, er mußte bloß unterhaltsam sterben. There’s no business
like show business. Ich verstehe das.
Aber ich hätte
gerne, daß sich die Politik des Landes davon essentiell
unterscheiden ließe und insbesondere die Kulturpolitik wie auch die
kulturelle Praxis. Zu viel verlangt? Wir werden sehn…