Ich versuche gerade, mich genauer zu erinnern, ob ich so ein Kippen
schon einmal erlebt hab. Aber was ich als Ära empfinde, die nun
offenbar geendet hat, ist durchgängig, obwohl mir dabei eine
spezielle Merkwürdigkeit schon früher aufgefallen ist. Diese
Tendenz, Defizite einer Gesellschaft umzudeuten. Das kommt am Ende
solcher Bearbeitung als ein individuelles Versagen heraus. Das
meint, strukturelle Mängel werden einem eventuell als persönliche
„Fehlleistung“ angeheftet, was die Auseinandersetzung mit
komplexeren Kräftespielen erspart.
Was mir diesbezügliche
Gespräche der letzten Wochen eher bestätigen: Die alten Versprechen,
denen wir uns verpflichtet sahen, sind tatsächlich in hohem Maß
entwertet, sind ungültig geworden. Dieses neue Paradigma
„Sichtbarkeit vor Authentizität“ läßt sich mit ganz banalen
Beispielen belegen. Zum Beispiel: Jedes ausführlichere Statement auf
Facebook erscheint rekordverdächtig, wenn ich dafür drei
bis vier Likes kassiere. War ich beim Friseur und belege das mit
einem Foto, sind 30 Likes das Minimum.
Ich beklage das nicht,
es sind authentische Verhältnisse. Marschik hatte es so ausgedrückt:
„In einer Zeit des Jugendwahns und der markttauglichen Aufbereitung
(statt Inhalten) sind unsere Ideen vermutlich wirklich nicht mehr
‚zeitgemäß‘.“
Genau diesen Aspekt, die markttaugliche
Aufbereitung, hatten wir uns im Jahr 2007 als Thema vorgenommen. Das
war unser „next
code: coffee“ im Rahmen der netart community convention
in Graz. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil damals ein
wichtiger Impuls wieder einmal aus der Architektur kam. Und zwar
über den Begriff Rendering.
Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov
So manche Bürgermeister wollten die Komplexität von Vorhaben nicht
mehr erkunden und ihrem Gemeinderat darlegen oder gar der
Bevölkerung. Statt dessen würde „A schön’s Rendering“
bevorzugt, also eine attraktive Darstellung in ansprechenden
Bildern, die Debatten würden lieber ausgespart und schneller vom
Tisch ist. Zack, zack, zack, erledigt!
Verstehen Sie mich
recht, ich hab heute kein Interesse mehr daran, über diese Zustände zu
lamentieren. Ich erkenne den Status quo an. Aber ich brauche
stichhaltige Befunde und klare Beschreibungen, um meinen eigenen
Standort festlegen zu können. Der befindet sich eindeutig in
Opposition zu solchen Verhältnissen.
Ich hab oben den Modus
„Sichtbarkeit vor Authentizität“ erwähnt. Er läßt sich an
einem prominenten Beispiel überprüfen. Ich hab, staunend, das
Youtube-Video "ABOUT
YOU Awards 2019 - Ganze Sendung" (Die größte Influencer
Award Show des Jahres) durchgesehen. Ich war einerseits verblüfft,
daß man mir ein derart großes Rudel blendend aussehender junger
Menschen in so kontrastreicher, eindrucksvoller Kostümierung zeigen
konnte.
Ich war andrerseits irritiert, daß sich im Laufe von
eindreiviertel Stunden kein einziger geistreicher Satz zitieren
läßt. Ich hab mich bemüht, das Video in Abständen zweimal
durchzusehen.
Da ist nichts zu holen. Mehr noch, selbst routinierte Showgrößen wie
Heidi Klum und die Kaulitz-Zwillinger sind damit überfordert, haben
nichts auf Lager, äußern sich mehrfach in geradezu dummem Gestammel.
(Ich nehme gerne Post entgegen, die mir aus dieser Sendung
irgendeinen klugen Satz liefert, den ich überhört habe.)
Ich
nenne solche Verhältnisse einfach Verschnöselung und kann
mich mit der Rudelbildung von Schnöseln nicht weiter befassen.
Bezüglich der Politik sieht das für mich anders aus...