7. Mai 2019

In verschiedenen Kampfsportarten gibt es eine kluge Konvention. Das Abklopfen. Es kann hart an die Schmerzgrenzen gehen, es kann blutige Nasen geben, aber wer abklopft, darf sich darauf verlassen, daß jeglicher Zugriff stoppt. Wo das in einer Gemeinschaft so geregelt ist, riskiert, wer das vorsätzlich übergeht, die Verbannung.

Mich interessieren all diese Regeln, mit denen wir um eine Grundbedingung von Zivilisation ringen: Gewaltverzicht. Im Kernbereich jenes Milieus, das zu meinem Zuhause wurde, läßt sich vermutlich niemand finden, um diesen fundamentalen Punkt in Abrede zu stellen. Wir wissen aus der Literatur, aus unseren Debatten, aus beruflichen Erfahrungen und aus privaten Schicksalsschlägen, daß Gewalttätigkeit nicht erst mit dem Zuschlagen beginnt.

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Tchéky Karyo in "Die Räuber"

Sie fängt dort zu wirken an, wo einen Abschätzigkeit trifft, wenn sie wenigstens in Worten losgeschickt wird. Es wäre eigentlich auch schon der Blick diesem Arsenal zuzurechnen, aber ein verächtlicher Blick schafft es eher nicht, in den Kanon von Gewalttätigkeit eingeschrieben zu werden. In der Waffenkammer gehört er freilich längst zum Inventar.

Ich hab das im Jahr 2015 hier anläßlich einer Friedrich Schiller-Verfilmung notiert; wie der Boss das demonstriert: Während er die Kontroverse mit einem Bandenmitglied beendet, indem er den Mann dominiert, fordert er abschließend mehrmals sehr energisch: "Senk deinen Blick!" [Quelle]

Über die frühen Formen des gewalttätigen Umgangs von Menschen miteinander wissen wir wenig. Ab der Neolithischen Revolution sind die Eindrücke deutlicher, weil Skelette aus Massengräbern forensisch untersucht wurden. Ich hab das eben im Eintrag vom 27.4.2019 wieder aufgegriffen. Tags darauf war von jenem steirischen Kleinbürger zu erzählen, einem Mann in guter Position, also offenbar nicht gerade ein notorischer Rüpel, von dem eine österreichische Politikerin mit größter Niedertracht und Verachtung bedacht wurde; siehe dazu: "Was eine 'Hündin' sei"!

Es läßt sich inzwischen leicht belegen, daß unter jenen, die solches Verhalten unverzeihlich finden, etliche selbst in Konfliktsituationen keineswegs moderater vorgehen. Ich hab wenig Lust, auf solche Vorfälle mit Empörung zu reagieren, weil Empörung niemanden klüger macht. Sie ist gewissermaßen eine leere Geste, eher einem Schmerzenslaut vergleichbar. Der macht mich ja auch nicht schlauer, sondern hat bloß das Zeug zu einer Art akustischer Warnleuchte.

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Mathematiker Heimo Müller

Ich war eben mit dem Mathematiker Heimo Müller auf einer schönen kleinen Tour, bei der wir einiges zu erledigen hatten und Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen fanden.Müller scheint in diesen Fragen geradezu unerschütterlich pragmatisch zu sein, völlig unaufgeregt. (Siehe zu dieser Tour: "Ein G im Sonntag"!)

Was seit geraumer Zeit an Brutalisierung dieser Gesellschaft dargestellt werden kann, verblüfft mich am meisten in jenen Bereichen, wo sich belesene, reflektierte Leute vielfach explizit gegen heftige Übergriffe ausgesprochen haben. Unter eben diesen Leuten behalten es sich aber viele vor, im Falle von Divergenzen alle Register des Angriffs zu ziehen. Müller meinte auf unserer Tour, das sei ohnehin nie anders gewesen. Konjunkturen? Vielleicht!

[Tirade]
„Aber…"
„Nein! Laß mich ausreden!"
[Tirade]
[Tirade]
„Aber…"
„Ich bin noch nicht fertig!"
[Tirade]

Das ist ein bemerkenswerter Dialog-Modus, wie er in den letzten Jahren an Popularität gewonnen hat. Ich erlebe das in privater Kommunikation, ich erlebe das in österreichischen Talkshows. Wo Dissens plötzlich in Gezänk kippt, ist die Folge kein Crescendo, sondern die Attacke aus dem Stand. In den Talkshows fällt mir auf, daß die Moderation oft einknickt, bis derart heftig rauf, rüber, runter und durcheinandergeredet wird, daß den Zänkischen selbst dämmert: Da versteht nun draußen niemand mehr auch nur ein Wort.

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Im Privaten sind offenbar die Modi alter Raufhändel aus den Wirtshäusern neu entdeckt oder neu erfunden worden. Da geht dann nur Einer, wahlweise Eine, auf zwei Beinen raus, das Gegenüber muß zu Boden gegangen sein, niedergerungen, wodurch auch immer. Das ist keine Domäne von grobschlächtigen Menschen. Ganz im Gegenteil!

Inzwischen haben allerhand gebildete Leute in meinem Umfeld kaum noch gute Gründe, bei Dissens ein wenig vom Gas zu gehen oder gar herunten zu bleiben. Es läuft der Coup in Bestzeit auf maximalen Impact hinaus. Früher wurde man handgemein, heute wird man untergriffig.

Ich bin überzeugt, kein Milieu vor unserer Zeit hatte auf so breiter Ebene so viel Ahnung von psychologischen Kräftespielen und Zusammenhängen. Man könnte sagen: Wir sind heute in weiten Kreisen vermutlich viel schlauer drauf als weiland Sigmund Freud. Da macht uns niemand was vor!

Ich nutze diese Gelegenheit erneut, eines meiner Lieblings-Bonmot zu deponieren: Intelligenz, so heißt es, sei die Fähigkeit, über zwei einander widersprechenden Auffassungen nicht den Verstand zu verlieren. Ich bekomme langsam das Gefühl, dieser Aspekt bietet uns sogar ein brauchbares Kriterium für menschlichen Umgang in belasteten Situationen. Man könnte daraus vermutlich eine Art "Kntasch-Faktor" ableiten, der uns Auskunft über den Zustand des Gegenübers gibt, wenn gerade der Ärger regiert.

-- [Tesserakt] [Netzkultur] --

Post Scriptum:
Es gab vor einer Weile in aktiver Aufstellung "Das BKP", ein "Büro für Konspiration und Paranormales", assoziiert mit dem Moralfreien Institut Sheng. Zur Arbeit dieses Büros gehörte unter anderem auch "eine kleine enzyklopädie der beschimpfungen", die unter dem Titel "PUNCH" stand und gelegentlich ein wenig aufgefrischt wird.

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